Kahel Kaschmiri | Foto © Rottkay

Mein letzter Sommer in Afghanistan

Kahel Kaschmiri

Ghazni, Afghanistan

 

…war heiß, die Sonnenstrahlen brannten, so sehr,
daß ich kaum arbeiten konnte.
Aber kann es sein, daß man nicht arbeitet?
Nicht zu arbeiten bedeutet, zu hungern und auf der Straße zu leben. Wo hätten ich und meine Familie Unterschlupf gefunden?
Ich benetzte mein Gesicht mit Wasser, zog ein dünnes weißes Hemd an, und ging zum Bazar, um mich um die Kunden im Geschäft zu kümmern.

In Berlin dagegen habe ich den Sommer gar nicht mitbekommen. Es war fast immer kalt. Nur einige Tage war es heiß. Und dann liefen alle nackt durch die Straßen.
Oder lagen in den Parks. Oder gingen schwimmen. Und ich war verblüfft, wie ging das, daß sie nackt durch die Straßen laufen und im Park liegen und abends noch etwas zu Essen finden?
Aber der Sommer in Afghanistan war nicht nur heiß.
Er schmerzte. Es waren die Schmerzen meiner Mutter.
Die Armut und die Verzweiflung meines Vaters.
Die Ausweglosigkeit meiner Schwester, die sich vor den gierigen Blicken von Kopf bis Fuß verhüllen musste. Schließlich hat man sie verheiratet, obwohl sie jünger ist als ich. Und jetzt hat sie schon einen Sohn. Ich frage mich, ist das ihr Sohn - oder ist das ihre Puppe?

In meinem letzten Sommer in Afghanistan hat auf meinem Weg zur Arbeit ein bewaffneter Motorradfahrer einen Polizisten erschossen. Er flüchtete. Dieser Polizist war frisch verheiratet. Es war der Beginn seines Lebens. Er wollte nur seiner Arbeit nachgehen und Geld verdienen.
Aber er starb in einer Sekunde.
Bis die Polizisten kamen, war er schon aus der Welt geschieden.

Wollt ihr, daß ich euch nochmal von meinem letzten Sommer in Afghanistan erzähle?

Ich liebte es, Motorrad zu fahren, umherzustreifen und Gas zu geben. Die Luft wehte in mein Gesicht und die Sonne schien und ich gab Gas. Ich dachte nur an die schöne Natur von Ghazni und beschleunigte.
Auf einmal überholte mich ein Auto. Es fuhr langsamer. Der Fahrer gab mir Zeichen. Halt an!
Ich bekam Angst. Ich gab Gas und flüchtete. Ich rief meinen Cousin an: Ich rief: »Öffne das Tor, hinter mir sind Leute her. Sie wollen mich entführen.«
Es waren die, die hinter den schönen Jungen her sind.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit flog ich in seine Richtung, in sein Haus. Er öffnete das Tor und ich stürzte hinein.
Ich atmete durch und dankte Gott.

Wollt ihr, daß ich euch nochmal von meinem letzten Sommer in Afghanistan erzähle?

Nach einem Jahr in der Fremde war ich froh, endlich eine Bleibe gefunden zu haben, ein Zimmer nur für mich selbst.
Vier Wände hatte ich für mich, sowie einen Schlüssel für eine Tür, über den ich selbst verfügen konnte.
Ich seufzte, öffnete die Tür und schlief vor Erschöpfung ein.

Meine Augen waren noch nicht ganz geschlossen, da öffnete sich eine Tür und ich fühlte die Schwere der Anwesenheit von jemandem. Ich hielt die Augen geschlossen, die Decke über das Gesicht.
Plötzlich spürte ich die Schwere seines Körpers auf meinem Körper, und der Schweiß brach mir aus. Ich begann zu zittern.
Ich öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus.
Ich hörte das Wesen sagen: Was machst du hier und warum bist du hierher gekommen?
Ich fing an zu schreien, so laut, daß ich von meinem eigenen Schrei erwachte.

Er war fort und ich fragte mich, wer es wohl gewesen sei?

Kurzporträt Kahel Kaschmiri

 

Michael Krasnov hat sich mit »Mein letzter Sommer in Berlin« auf diesen Text bezogen.
Mahdi Hashemi | Foto © Rottkay

Wie ein Pfeil

Mahdi Hashemi

Ghazni, Afghanistan, aufgewachsen in Iran

 

Einen Monat lang ging die Reise,
die keine Reise war,
sondern ein Schrecken, 

in das Land der Hoffnung. 


Jetzt warte ich auf ein Papier,

das vielleicht Bitterkeit enthält und Trauer.
Und fühle mich wie ein Pfeil.
Verschossen. 

Der zurückkehren soll
zu seinem Bogen.

Kurzporträt Mahdi Hashemi

Mohamad Mashghdost | Foto © Rottkay

Beginn des Lebens

Mohamad Mashghdost

Bandar Anzali, Iran



Der Beginn des Lebens war,
dass ich nicht existierte.

Es gab eine Mutter.
Sie war mein Gott.
Es war eine einseitige Liebe.

Es gab einen Vater.
Er war nie da.

Der Körper kam zur Ruhe,
nicht der Geist.
Ich blieb ohne Trost.

Die Schwester wollte mir die Mutter sein.
Aber sie war müde.

Ich liebte die Mutter.
Sie starb.

Ich wollte gehen
und ich blieb.

Ich wollte bleiben
und ich ging.

Nicht das Gehen war wichtig
und nicht das Bleiben.

Ich war wichtig,
der ich nicht existierte.

 

Kurzporträt Mohamad Mashghdost

Amira Gudegast | Foto © Rottkay

Die Deutschen

Amira Gudegast

Berlin, Deutschland

 

Die Deutschen sind pünktlich, ordentlich und zuverlässig.
Sie arbeiten für die Gesellschaft.
Sie arbeiten gern und viel,
das gibt ihnen Kraft.
Sie sind offenherzig und direkt.
Deutsche nehmen vieles an,
doch sie fordern auch ein,
was sie meinen, verdient zu haben.
Ihr Geld, ihre Freiheit, ihre Tradition.

Für meine Mutter war Deutschsein,
wenn man sich von der Familie lösen kann,
wenn man das Essen für die Gäste abzählt
und wenn man auch einen Tag nach dem Tod der eigenen Mutter
pünktlich arbeiten geht.

Doch ich,
ich sehe Deutsche anders.
Deutsche tun viel für das Allgemeinwohl,
auch wenn dafür die eigene Familie erst einmal warten muss.
Die Deutschen sind nicht geizig,
sie möchten nur nichts verschwenden.
Und Deutsche lieben nicht weniger,
sie trauern nur anders.
Sie sind nicht nur die,
die hier geboren wurden.
Es sind alle die,
die gerne hier sind.

 

Amira Gudegast (17)

wuchs in Deutschland als Tochter einer arabischen Familie auf. Da ihr Vater bereits früh verstorben ist und ihre Mutter sich nicht ausreichend um sie kümmern kann, lebt Amira in einer Caritas-Einrichtung in Berlin-Wilmersdorf. Später möchte Amira gerne Erzieherin werden.

Hier und Dort

Salah Ali Ngab

Tripolis, Libyen

 

Zwischen Hier und Dort
Gibt es keinen Unterschied
Glaube mir, der Mensch ist der Mensch

In meinem Land
Füllen die Nationalisten die Straßen mit Hassrede
Und hier – vor sechzig, siebzig oder achtzig Jahren
Füllten die Nationalisten die Straßen mit Hassrede
Dort hassen alle die Juden
Und die Nachbarn
Und die Dunkelhäutigen
Und die Frühgeburten
Hier auch – vor sechzig, siebzig oder achtzig Jahren
Hassten alle die Juden
Und die Nachbarn
Und die Dunkelhäutigen
Und die Frühgeburten

Dort zerstören die Nachbarn ganze Städte
Tausende sterben und alle kämpfen gegeneinander
Auf den heiligen Trümmern und vor den Türen der Krankenhäuser
Um die Welt zu beherrschen
Oder was übrig davon bleibt
Sie sind das beste Volk der Welt, aufgrund des Zufalls ihres Geburtsortes
Und ein bisschen wegen des Öls und wegen einer Erbschaft,
Die zu einer Hälfte heilig ist und zur anderen Hälfte aus Tagträumen gebaut
Hier auch, vor sechzig, siebzig oder achtzig Jahren
Zerstörten die Nachbarn ganze Städte
Tausende starben und alle kämpften gegeneinander
Auf den heiligen Trümmern und vor den Türen der Krankenhäuser
Um die Welt zu beherrschen
Oder was übrig davon bleibt
Sie sind das beste Volk der Welt, aufgrund des Zufalls ihres Geburtsortes
Und ein bisschen wegen des Öls und wegen einer Erbschaft
Die zu einer Hälfte heilig ist und zur anderen Hälfte aus Tagträumen gebaut

Dort gibt es Kinder, die vom Sieg der Fußballnationalmannschaft träumen
Und Mädchen, die vom Tag träumen, an dem sie fliegen dürfen
Ohne die Überwachung durch den Bart ihres jüngeren Bruders
Oder eines religiösen Oberhauptes, umgeben von Verbot- und Bannfatwas
Aber Hier jubeln die Kinder wegen des Siegs der Nationalmannschaft
Und fliegen die Mädchen zwischen Kontinenten
Auf der Suche nach einem anderen Leben
Ohne die Überwachung durch den Bart ihres jüngeren Bruders
Oder eines religiösen Oberhauptes, umgeben von Verbot- und Bannfatwas

Und das ist der Unterschied zwischen Hier und Dort
Glaube mir, mein Freund
Nur sechzig, siebzig oder achtzig Jahre

 

Salah Ali Ngab (37)

kommt aus Tripolis in Libyen. Der Publizist, Forscher und Menschenrechtsaktivist widmet sich der Kritik an fundamentalistischem Extremismus und religiöser Hassrede. Er gründete unter anderem das Kulturmagazin ‚Armat‘, übersetzt Gerechtigkeit – doch die hat es laut Salah in Libyen nie gegeben, nicht unter Muammar al-Gaddafi und heutzutage schon gar nicht. Aufgrund seiner Studien zu fundamentalistischem religiösem Denken und seiner Mitgliedschaft im Libyschen Liberalen Demokratieforum wurde er von der Gruppe Ansar al-Sharia bedroht, das Demokratieforum musste aufgrund von Morddrohungen an die Mitglieder geschlossen werden. Salahs aufklärerische Lesungen über die islamische Schrift führten zu seiner Verfolgung während der Regierungszeit Gaddafis, er wurde angeklagt wegen Verleumdung, Blasphemie, Ketzerei und Atheismus. Bei verschiedenen arabischen Behörden war er als „gefährlicher politischer Aktivist“ gelistet und wurde mehrfach an Flughäfen festgehalten.
Im Oktober 2014 schließlich entführten ihn auf offener Straße bewaffnete Milizen der Muslimbruderschaft, er wurde geschlagen und mit dem Tode bedroht. Dass er noch lebt, habe Salah einflussreichen Freunden zu verdanken, die sich für seine Freilassung einsetzten. Für ihn und seine Bekannten sei in Libyen kein Platz mehr, man sei von Feinden umzingelt. Salah konnte 2015 nach Tunesien und schließlich nach Deutschland fliehen, dank einer Einladung zum Open Eye Award der deutschen MiCt-Stiftung (Media in Cooperation and Transition) aufgrund seiner journalistischen Arbeit. Im selben Jahr beantragte er politisches Asyl in Deutschland.
Salah lebt heute mit seiner Frau und zwei Töchtern in Düsseldorf.
Samiullah Rasouli | Foto @ Rottkay

Frauen

Samiullah Rasouli

Ghazni, Afghanistan

 

Wenn ich sage, Frauen, dann meine ich echte Frauen,
diejenigen mit Brauen, Nasen und Schultern.
Die von Beginn an nur sich selbst gehören,
die nicht selbstsüchtig sind und stolz auf ihre Gaben,
die sich in ihrer einfachen Schlichtheit lieben
und einfach nur sie selbst sein wollen
und keiner anderen ähneln.
Diese Frauen meine ich, wenn ich sage Frauen.

Das Licht in ihrem Blick ist wie der Duft von Kobeko*
Ihre wohlwollende Hand ist unvergleichlich wertvoll.
Die Weisheit scheint unter ihrer Schminke hervor.

In Schönheit schreitet sie in der Öffentlichkeit.
Der wässrige Mund der Gaffer ist ihr gleich.
Die selbstbewusste, starke Frau verfolgt ihre Gaben und Talente.

Einige Frauen bleiben zuhause, sie lösen sich auf und werden zu Wasser.
Und diejenigen, die rausgehen, werden zu Brot und Speisen.
Und wenn ich sage Frauen, meine ich diese Frauen.

*Parfum mit dem Namen “Berg an Berg”
Samiullah Rasouli | Foto © Rottkay

Samiullah Rasouli (*1999)

Samiullah Rasouli wuchs in Ghazni, Afghanistan, auf. Die Region ist bis heute immer wieder umkämpft. Sein Vater starb vor vier Jahren. Vier Wochen war Samiullah auf der Flucht. Kürzlich begann er eine Lehre zum Hotelkaufmann. Seine Gedichte handeln von der Liebe und der Sehnsucht nach dem Vater. Foto © Rottkay

Kopftuch

Sarah Safi

Kapisa, Afghanistan

 

Ich dachte, in Deutschland könnte man sich selbst verwirklichen
Keine Schranken würden einem gesetzt, wenn man etwas wirklich will
Ich dachte, hier könnte man seine Zukunft in die Hand nehmen

Es ist ganz anders
Es gibt sehr viele Unterschiede hier
Zwischen Deutschen und Geflüchteten
Zwischen einem Türken, einem Araber, einem Russen und einem Rumänen

Jeder andere Mensch im Supermarkt kann ganz „normal“ einkaufen gehen
Doch ich, in dieser Menge
Mache den Unterschied für sie
Verschiedenste Menschen sind dort
Aber das Security Personal
Lungert hinter meinem Rücken

Warum immer ich?
Wegen meines Kopftuches
Weil ich Muslimin bin
Können sie sich nicht in meine Position versetzen?
Wie schlecht man sich fühlt, wenn man so behandelt wird
Welchen Spott ich von Seiten ihrer Kinder erfahren muss
Wenn sich die Erwachsenen schon so verhalten

Du gehst normal die Straße entlang
Und sie stoßen dich mit ihren Schultern weg,
Während sie an dir vorbeilaufen

Du bist in der U-Bahn
Verschiedenste Menschen sind dort
Wenn der Kontrolleur kommt
Bist du die erste Person, die er kontrolliert

Wie soll ich mich da fühlen?
Wie ein freier Mensch?
Wie eine starke Frau?

Manchmal glaube ich, ich habe meinen eigenen Weg verloren
Mein gesamtes Vertrauen in mich selbst

 

Sarah Safi (17)

ist seit 2017 in Deutschland. Sie ist allein nach Deutschland geflohen, von Griechenland aus kam sie mit dem Flugzeug nach Berlin. Ihre Familie ist seit Sommer 2018 auch in Deutschland. Sie besucht die Peter-Ustinov-Schule.
Ali Alzaeem | Foto © Rottkay

Erwähnt mich nicht

Ali Alzaeem

Idlib, Syrien

 

Notiert nicht
Ich sei ein Flüchtling
Ich kam zu euch mit einer Rettungsweste
Ohne Koffer
Erwähnt mich nicht auf den Straßen von Anatolien
Und nicht in den griechischen Häusern
Gebt nicht mit meiner Registrierung an
Ich sei euer bester Buchstabe
Sprecht mich nicht an mit der Sprache der Prinzen
Denn ich bin ein Schäfer, der die Täler kennt
Und mich fürchten die Wölfe
Gebt mir keinen Reisepass
Der den Flughafen in Verlegenheit bringt
Und keinen Geografieunterricht
Der uns beibringt, dass das Erdöl bei uns in Strömen fließt
Schreibt meinen Namen nicht in Zeitungen
Und nicht an die Türen der Veranstaltungen
Denn was wäre das für eine Angeberei
Seht mein Heimatland nicht mit den Augen einer mitleidigen Journalistin
Oder in der einfühlsamen Umarmung einer vorbeigehenden Frau
Lest nicht mein Gedicht, lest meine Geschichte
Kommentiert nicht
Verzieht euch zu euren Gläsern
Denn ich habe eine lange Nacht vor mir
In Gedanken an die Olivenzeit

 

Ali Alzaeem (19)

stammt aus einem Dorf in Idlib. Er hatte eine schöne Kindheit als Schäfer, Schüler, Fußballspieler. Im Sommer 2015 kam er nach Deutschland, spielt gern Theater und schreibt Gedichte. Er hat großes Interesse an Politik und Wirtschaft, die ihn sowohl ärgern als auch süchtig machen. Er geht auf die Elinor-Ostrom-Schule.
Mohamad Mashghdost | Foto © Rottkay

Heimat

Mohamad Mashghdost

Bandar Anzali, Iran

 

Meine Heimat habe ich verlassen,
mein Herz. Jetzt ist es wie Schlaf und Traum
und brennt in der Tiefe meines Körpers.
Die weinende Mutter hat mich fortgeschickt.

Die Leiden sind zu Ende, sagte ich.
Ich packte und machte mich auf den Weg.
Leib und Seele überließ ich dem Ozean,
Gott, ich existiere noch, danke.

Gott möge das Meer verfluchen, dass die Leiber verschlingt.
Das Gebet und die Liebe für die Schwester halfen mir anzukommen.
Aber meine Augen haben die Farben des Unglücks gesehen.

 

Kurzporträt Mohamad Mashghdost

Der Apfel

Alan Halo

Shingal, Irak

 

Ich sehe einen großen Garten
Überall Gemüse und Obst
Und mittendrin meine Mama
Sie pflanzt einen neuen Apfelbaum
Ich sehe, wie der Apfelbaum wächst
Mit nur einem Apfel
Meine Mutter verbietet uns
Den Apfel anzufassen
Sie verteidigt den einzigen Apfel

Ich höre meine Tante an der Tür
Der pinkfarbene Schal verdeckt den kahlen Kopf
Sie schaut sich im Garten um
Und findet den einzigen Apfel am Baum
Sie geht hin, guckt, zieht den Ast zu sich heran
Und pflückt den einzigen Apfel
Wir Kinder grinsen und sagen
„Be kana u nha tue sanbe kan jea“
„Noch lacht sie, aber gleich kann sie was erleben“
Alle gucken auf meine Mutter
Und auf meine Tante
Und es passiert

Gar nichts

Ganz kurz darauf kam der Krieg
Wir sind weggelaufen
In die Berge, über die Berge zu Fuß
Die Menschen haben vor meinen Augen ihr Leben verloren
Und ihre Kinder zurückgelassen

Alles ist weg, das Zuhause ist weg
Der Garten ist so weit weg
Meine Tante ist gestorben
Sie hinterließ vier kleine Kinder

Wenn ich einen Garten sehe oder einen Apfel
Dann denke ich an sie

 

Alan Halo (15)

ist in Shingal im Irak geboren. Als der Krieg ausbrach, sind er und seine Familie zu Fuß und mit dem Schiff nach Deutschland geflüchtet. Zunächst hat er mit seinem Onkel und zwei seiner Brüder in Deutschland in einem Camp gelebt. Erst nach einem Jahr durften seine Eltern und die restlichen Geschwister aus der Türkei nachkommen. Jetzt leben sie als Familie wieder vereint in einem Haus in Oldenburg, doch es ist nicht klar, wie es mit ihnen weitergehen wird.

Ich will sagen, du bist bunt

Helena von Beyme

Berlin, Deutschland

 

Deutschland, du kannst grau sein
Dein Wind weht durch schmale Straßen
Durch blonde und braune und schwarze Haare
Und für manche ist das ein Problem
Dass nicht alle gleich deutsch aussehen
Und was soll das überhaupt bedeuten?
Deutschland, kann ich sagen, du bist mein Land?
Kann ich deine Farben tragen?
Ein Schwarz und ein Rot und ein Gold
Wenn Fahnen wehen,
habe ich ein komisches Gefühl
Deutschland, ich will sagen, du bist bunt
Ich will sagen, du bist tolerant
Ich will sagen, du bist mein Land
Aber Deutschland, wo gehst du hin?
Nach rechts, nach links oder geradeaus?
Und wer sind die Menschen, die meinen, dich verteidigen zu müssen?
Die Angst haben vor Veränderung und Andersartigkeit?
Menschen, die deinen Namen schreien
Mit so viel Hass und so viel Wut
Wer sind diese Menschen, die behaupten zu wissen, wer du sein solltest?
Ihnen möchte ich nicht überlassen,
was du für mich bist
Ihnen möchte ich nicht überlassen,
was du wirst
Deutschland, ich möchte deinen Namen sprechen
und mich gut dabei fühlen

 

Helena von Beyme (17)

ist in Berlin aufgewachsen. Sie tanzt und singt sehr gerne, auch wenn das gelegentlich ihre Familie stört. Ihre Lieblingsjahreszeit ist der Sommer, da sie sonniges Wetter liebt. Sprache hat sie schon immer fasziniert, und Gedichte zu schreiben ist für sie eine wertvolle Art und Weise, Gefühle auszudrücken.

Morgen

Ali Ahmade

Bamyan, Afghanistan

Sei ruhig, sagst du zu mir.
Und erinnerst mich daran, dass du doch da bist.
Was morgen ist, das weiß ich nicht.
Verzeih, dass ich von morgen nichts sagen kann.
Aber heute bin ich ja noch da.

Ali Ahmade (*2000)

Das Gedicht beschreibt die Gedanken an seine Mutter, bevor er in der Türkei ins Boot steigt und nicht weiß, ob er die Überfahrt nach Griechenland überleben wird. Ali Ahmade gehörte 2015 zu den jüngsten allein nach Deutschland Geflüchteten, die zum Poetry Project stiessen. Heute lebt er in Süddeutschland in einem Heim.
Yasser Niksada | Foto © Rottkay

Spuren

Yasser Niksada

Panshir, Afghanistan, aufgewachsen in Iran

 

Sei neben mir und sieh,
was mir geschehen ist.
 
Es ist vorbei, die Spuren noch im Herzen.
 
Kein Platz für mich für Schlaf in diesem Bus.
 
Die Füße vertrocknet, der Traum versank im Auge.
 
Die Polizei sagte Stopp.
Geht zurück, geht zurück.
Alle dann in den Waggons, nur ich allein auf dem Gleis.
Das Schlauchboot sank und mein heißes Herz für Europa wurde kalt.
Die Welt schlief, nur wir waren wach,
hungrig, durstig, müde.
Wir sind ja weggegangen, schwieriger wird es, zurückzukehren.
Das ganze Sich-Zerreißen, für ein bisschen Ruhe.
Nicht meine Ruhe.
Die Ruhe meiner Familie.

Foto © Rottkay

Yasser Niksada (*2002)

Yasser Niksada stammt aus dem Panshir-Tal in Afghanistan. Vor zehn Jahren flohen die Niksadas nach Teheran, dort lebt die Familie als Flüchtlinge. Aber das ist kein Leben, sagt Yasser. Deshalb schickte die Familie ihn auf die Reise nach Europa. In Deutschland vermisst Yasser seine Familie. Foto © Rottkay
Rojin Namer | Foto © Rottkay

Damaskus

Rojin Namer 

Kamischli, Syrien

 

Wie soll ich Damaskus beschreiben?
Wie soll ich das Paradies beschreiben, denjenigen, die es nicht kennen?
Das Herz von Syrien.
Die Seele von mir.
Die Hoffnung von anderen.
Das ist Damaskus.

Wo es Kriege gibt.
Wo Bomben fallen jeden Tag.
Wo Leute Angst haben.
Das ist Damaskus.

Wovon ich jeden Tag träume.
Wo ich meine Wurzeln habe.
Das ist Damaskus.

Wo ich den Schuldigen frage, wer schuld ist daran.
Wo keine Medizin das Blut stoppt.
Das ist Damaskus.

Da, wo überall Touristen hinkamen.
Da, wo die Straßen zerstört sind.
Da, wo jetzt Blut fließt.
Mein Damaskus.

Ich vermisse deine Straßen.
Ich vermisse deine Lichter.
Ich vermisse deine Musik,
die wir jeden Morgen hören.
Ich vermisse deine Nächte,
die warm und voller Leben sind.
Das ist Damaskus.

Die Stadt voller Liebe.
Eine Stadt voller Blut.
Das Paradies
wurde zur Schlacht.

Wo den Leuten die Tränen laufen vor Enttäuschung.
Vor Angst.
Und nicht vor Freude.
Das ist Damaskus.

Mein Damaskus.
Ich will dich zurück.
Zurück zu mir.

 

 

The Poetry Project, Foto © Rottkay

Rojin Namer (*2002)

floh vor drei Jahren allein aus Damaskus, sie stammt ursprünglich aus dem kurdischen Kamischli. Das Mädchen kam als unbegleitete Minderjährige nach Berlin, wo sie die Friedrich Ebert-Oberschule besuchte. Ihre Eltern und Geschwister leben als Flüchtlinge im Irak. Rojin nimmt erfolgreich an Debattier-Wettbewerben teil, sie liebt das Fotografieren und möchte Philosophie studieren. 2019 wurde sie dem Theo in der Kategorie Sprachräume ausgezeichnet. Foto © Rottkay
Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Über Sicherheit und kleine Freiheiten in Deutschland

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

Junge Frauen dürfen einen Freund haben hier.
Sie können zusammen ausgehen und Dinge unternehmen.
Afghanische Mädchen dürfen das nicht,
außer sie sind alt genug.

Dann sucht man einen Ehemann,
und es gibt eine Hochzeit.
Bis zur Hochzeitsnacht sehen sie den Ehemann nicht.

Zwei Autos in Berlin hatten einen Unfall.
Nicht mal Minuten vergingen,
und die Polizei war da, mit Blaulicht.
In Afghanistan hätten sich die Fahrer geprügelt,
und Stunden später wäre die Polizei erschienen.
Dabei war nichts passiert, nur ein Kratzer.

Die Menschen hier gehen abends durch die Straßen,
nicht in Afghanistan. Wenn ein junger Afghane aus dem Haus tritt, weiß er nicht, ob er wieder zurückkehren wird. Er verabschiedet sich für immer. Wenn ein junger Afghane aus dem Haus geht, hat er vermutlich Geld, er kann entführt werden. Wenn er etwas hübscher ist, werden sie
andere Dinge mit ihm anstellen oder ihn mit einer Bombe in die Luft jagen. So ist es nicht in Europa.

 

Shahzamir Hataki

Mahdi Hashemi | Foto © Rottkay

Regeln im Heim

Mahdi Hashemi

Ghazni, Afghanistan

 

Wenn Du das Telefon benutzt,
werde ich es dir wegnehmen!

Ich möchte raus!
Du darfst abends nicht raus.

Ich will einen Film schauen!
Nur bis zehn Uhr!

Ich möchte morgen nicht in die Schule!
Dann schmeißen wir dich raus!

Kann ich morgen bei einem Freund schlafen?
Nein, du musst morgen in die Schule!

Darf ich zurück in den Iran?
Nein, das ist nicht legal.

Darf ich sterben?
Du bist verrückt, nein, du hast kein Recht dazu.

Darf ich leben?
Das ist eine schwierige Frage.

 

The Poetry Project | Foto © Rottkay

Mahdi Hashemi (*2000)

Mahdi Hashemi wurde als Kind afghanischer Flüchtlinge in Iran geboren. Er wuchs nahe der Hauptstadt Teheran auf. Mahdi schreibt darüber, warum sich afghanische Flüchtlinge in Iran sogar dafür entschuldigen, dort die Luft zu atmen. Foto © Rottkay

Ich starre zurück

Omran Fadel

Homs, Syrien

 

Ankunft am Berliner Flughafen.
Ich bin allein zwischen 1000 Menschen.
Ich bin angekommen.
Und doch noch in Ägypten bei meiner Familie.

Ich kann die Schilder nicht lesen.
Ich muss zum Ausgang und meinen Onkel finden.
Ich gehe einfach den anderen Menschen hinterher.
Mein Onkel erkennt mich direkt.
Wir haben uns sechs Jahre nicht gesehen.

Die Häuser sind fünfmal größer als in Ägypten.
Die Sprache fremd.
Wie soll ich sie so schnell lernen?

Von der Hauptstadt in eine kleinere Stadt.
Die Menschen in der U-Bahn starren mich an.
Ich starre zurück.

 

Omran Fadel (15)

ist von der Familie alleine nach Deutschland geschickt worden, um hier mit seinem Onkel zu leben und eine bessere Zukunft zu haben. Seine Eltern und seine 4 Geschwister leben noch in der Heimat. Omran macht gerne Sport und möchte nach der Schule eine Ausbildung beginnen.
Robina Karimi | Foto © Rottkay

Gewalt und Stolz

Robina Karimi

Kabul, Afghanistan

 

Habe ich kein Recht, meinen Lebensgefährten auszusuchen?
Was unterscheidet eine Afghanin von einer deutschen Frau?
Beide sind Frauen!
Besteht der Unterschied im Deutschsein und Afghanischsein?
Die Last der Tugend liegt auf den Schultern der Frau.
Ein Mann tut, was er möchte.
Wenn aber ich meinem Willen freien Lauf lasse, bin ich es, die schlecht ist.
Ich bin ein Mensch.
Ich atme.
Ich will leben.
Ich will frei sein und fliegen.
Und das Leben, das Gott mir geschenkt hat, genießen.
Wieso willst du dieses Leben von mir nehmen, mir die Freiheit verwehren?
Auch ich bin ein Mensch.

Junge, hier ist nicht Afghanistan!
Sieh dich um, mach die Augen auf.
Die Dinge, die du mir dort antatest, kannst du einem Mädchen hier nicht antun.
Hier entscheidest du nicht allein.
Hier entscheidet auch sie, ob sie mit dir sein will oder geht.
Hier sind unsere Rechte gleich.
Du musst mich anerkennen.
Hier ist es ausreichend, Frau zu sein.

 

Robina Karimi (17)

aus Kabul, Afghanistan, über Gewalt und verletzten Stolz, wenn die Liebe geht. Sie floh vor der Gewalt eines Verehrers in ihrer Heimat.
Lotti Spieler | Foto © Rottkay

Verdrängungsmechanismus im Prenzlauer Berg

Lotti Spieler

Berlin, Deutschland

 

Den Winter vermisse ich genauso wie den Sommer,
immer dann, wenn das jeweilige Gegenstück
gerade nicht da ist.

Wenn mein Arm ab ist,
dann vermisse ich den auch,
weil so ganze ohne Arm,
ist ja auch dann scheiße.

Aber jetzt gerade ist er mir nicht so wichtig,
oder besser gesagt,
so wichtig, wie mir ein Arm eben sein kann,
oder sein muss,
weil am Ende brauche ich ihn doch,
und das kann auch ganz praktisch sein,
so ein Arm.

Meine Erinnerungen vermisse ich auch irgendwie,
aber nicht auf dieser Gefühlsebene.
Sie sind einfach nicht mehr da.

Vermissen muss ja auch nicht gleich ein Gefühl sein,
dann kann man auch den Kitsch vermeiden.
Zum Beispiel! Meine Schlüssel kann ich auch vermissen,
wenn sie grad nicht da sind,
und auch so ganz ohne Gefühle.
Dann brauch ich sie und wenn sie nicht da sind,
ist das halt doof,
wie mit dem Arm.

,,Erinnerst du dich noch an..?’’
Nee, ehrlich gesagt nicht,
aber ,,ja haha’’,
weil alle anderen sich ja auch erinnern und sonst wäre das komisch
und ich außen vor,
vielleicht sind das Verdrängungsmechanismen,
aber ich bin im Prenzlauer Berg aufgewachsen…

Eine schlechte Kindheit heißt da,
mal von der Oma Pommes von McDonalds mitgebracht bekommen zu haben,
weil die Scheiße ist ja, ist alles nicht glutenfrei und vegan,
dabei hat das arme Kind doch so viele Unverträglichkeiten.
Keine schlimme Kindheit, kein Verdrängungsmechanismus also.

Vermissen Menschen, die ihr Leben lang keine Walnüsse essen konnten,
weil sie wirklich allergisch sind, den Geschmack der Nüsse?
Oder Farbenblinde. Kann man denn etwas vermissen,
was man nicht kennt?
Vielleicht schon so ganz tief drinnen, das ist es doch auch,
worauf jede schlechte Roman-Romanze basiert.

Dass da was gefehlt hat bzw. in dem Fall jemand,
so innen drin halt.
Mir fehlt aber gar nichts.
Ich hab‘s ja dann doch ganz gut,
um jetzt nochmal auf das Moral-Wertschätzen-Ding zurückzukommen.
Mir fehlt nichts hier, ich hab‘ beide meine Arme und
meine Schlüssel gerade auch,
außerdem ne ganz solide Bildung,
glaube oder hoffe ich jedenfalls.

Ihr habt hier übrigens ne ziemlich krasse Akustik drin.
Man hört einfach jedes Wort,
das vor der Tür geredet wird.
Cool, aber auch ein bisschen gruselig.
Jetzt habe ich nichts mehr aufzuschreiben.
Eure Akustik hier ist echt geil.
Die werde ich heute vielleicht noch vermissen
oder vielleicht auch nicht, weil…
Wie gesagt, ist ja auch ein bisschen gruselig fremde Leute zu belauschen.
Macht aber auch irgendwie Spaß.

Kurzer Abschlussgedanke, wäre es nicht unfassbar cool, die Sonne wäre ein Loch?

 

Lotti Spieler (14)

ist, wie sie selbst behauptet, überbehütet im Prenzlauer Berg in Berlin aufgewachsen und besucht dort die Schule. In den letzten Jahren hat sie regelmäßig Lyrikpreise gewonnen, kritisiert stetig die unsichere Zukunft ihrer Generation und denkt oft laut auf Papier.

Erinnerungssteuer

Abdallah Ghbash

Aleppo, Syrien

 

Wo ist Gott?

Gott ist in der Ausländerbehörde.

Abteilung Reisepässe.

 

Sind Sie das erste Mal in Göttingen?

Ich kam letzten Winter..

Was haben Sie in Ihrer Tasche?

Positive Gefühle und ein paar Erinnerungen..

Aber das sieht nicht besonders schwer aus.

Ja, weil ich einige Gefühle auf dem Weg verloren habe und ich hatte Hunger, also habe ich die schlechten Erinnerungen gegessen.

Haben Sie hierfür bereits die Steuern beglichen?

Ja, ich habe vier Jahre bezahlt.

 

Abdallah Ghbash (30)

studierte orientalische Musiktheorie in Syrien und hatte ein eigenes Musikstudio. Er komponierte Songs und schrieb Gedichte. 2013 flüchtete er nach Istanbul, wo er eine eigene Radiosendung moderierte. In Deutschland trat er als Musiker mit der Oud unter anderem beim Freien Theater boat people projekt auf und im Stadtlabor Göttingen. Seit 2017 ist er Mitglied bei Musikland Niedersachsen.

 

An die AfD

Sophia Grabendorfer

Wendelstein, Deutschland

 

Ich habe Angst.
Wenn ich durch die Straßen gehe und blau-rote Wahlplakate sehe, wird mir schlecht.
Wenn ich Andere ausländerfeindliche Parolen schreien höre, werde ich wütend.
Und wenn ich die Ergebnisse der letzten Wahl anschaue, bekomme ich Angst.

63 Jahre Frieden in Deutschland.
63 Jahre keine Parolen, keine Erschießungen, keine Konzentrationslager
und keine Angst ums eigene Leben.
Habt ihr nichts aus dieser Zeit gelernt?
Ist es so falsch, anderen zu geben, was wir gerade haben?

Es ist noch nicht so lange her,
da flohen deutsche Kinder nach Großbritannien, deutsche Familien nach Amerika.
Und heute wünschen sich viele „die guten alten Zeiten zurück“.
Welche guten alten Zeiten?

Ging es uns je besser als heute?
Können wir nicht ein bisschen Angst aus der Welt anderer Leute nehmen?

 

Sophia Grabendorfer (17)

wohnt in Wendelstein und besucht das dortige Gymnasium. An ihrer Schule nimmt sie an der AG »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« teil und setzt sich dort unter anderem mit der Frage auseinander, wie man sich respektvoll im Schulalltag begegnet und was man tun kann, um jeglicher Form von Diskriminierung entgegenzutreten.

Gewalt wie Sterne am Himmel

Omran Fadel

Homs, Syrien

 

In meinem Heimatland gibt es Gewalt wie Sterne am Himmel.
Die Leute werden von der Polizei geschlagen und erschossen,
niemand darf etwas sagen, sonst wird er festgenommen.
Die Menschen in meinem Heimatland werden einfach bestraft.
Es gibt keine richtigen Gesetze.
Wenn man Geld hat, kann man alles kaufen.
Auch die Polizei.
Auch die Gesetze.

 

Omran Fadel (15)

ist von der Familie alleine nach Deutschland geschickt worden, um hier mit seinem Onkel zu leben und eine bessere Zukunft zu haben. Seine Eltern und seine 4 Geschwister leben noch in der Heimat. Omran macht gerne Sport und möchte nach der Schule eine Ausbildung beginnen.
Ali Alzaeem | Foto © Rottkay

Steckt die arabischen Schwerter ein

Ali Alzaeem

Idlib, Syrien

 

Oh Oktober,
Ich erzähle von Laila, wie sie die Freiheit geküsst hat.
Sieben Himmel beschäftigen sich mit meinen Gedichten.

Oh Sonne von Damaskus,
Schickt der Tigris etwa noch immer unsere Wünsche Richtung Bagdad?
Auf den Pferden der Araber
Zu den Türmen der Hamdaniden
Unter der Schirmherrschaft der Umayya.
Unsere Kamele tragen die Märtyrer zu den Ursprüngen der Freiheit.

Seit neunzehn Jahren, oh meine Mutter,
Spielt Laila die Instrumente der Abende
Und die Straßen sind von den Wehklagen der Mütter erfüllt,
Über die Bilder ihrer Kinder.

Seit neunzehn Jahren, oh Vater,
Bin ich beschäftigt mit der Tilgung
Der Geschichte meiner Heimat
Von den Illusionen der Könige.

Seit neunzehn Jahren, oh Bruder,
Lüge ich mit der Behauptung,
Ich hätte die morgendliche Begrüßung
Der Fahnen unseres Landes gebilligt.

Lasst die arabischen Schwerter los,
Denn Laila hat einen Westlichen geheiratet.
Sie erzählt nicht mehr die Geschichte des Mondes,
Ist nicht mehr die Reinheit der Nächte.
Steckt die arabischen Schwerter wieder ein,
Bis Laila sich von dem Fremden scheidet
Und zurück zu ihren Wurzeln findet.

 

Ali Alzaeem (19)

stammt aus einem Dorf in Idlib. Er hatte eine schöne Kindheit als Schäfer, Schüler, Fußballspieler. Im Sommer 2015 kam er nach Deutschland, spielt gern Theater und schreibt Gedichte. Er hat großes Interesse an Politik und Wirtschaft, die ihn sowohl ärgern als auch süchtig machen. Er geht auf die Elinor-Ostrom-Schule.

»Die Anderen«

Zoё Matt-Williams

Berlin, Deutschland

 

Heißer Sommer. Mittag.
Die Bäume schwitzen,
als ein Freund mir erzählt,
dass er England verlassen will,
weil kein anderer Ort der Welt
„die Anderen” so verabscheut.

Oktober. Berlin.
Bin ich nicht auch „anders”?
Halb-deutsch,
genau wie er,
aber mit heller Haut. Blond.
Keiner schreit mich an von Straßenecken,
Hass gefiltert durch
Anspruchsdenken und Angst und Zigarettenrauch,
weil ich nicht bin wie sie.

Dezember. Alexanderplatz.
Deutschland ist nicht so, sagt er.

Weihnachtsabend. Am Küchentisch.
Der Vater einer Freundin fragt, ob ich ihm die Bratensoße reichen kann,
den Mund vollgestopft mit blutigem Tierfleisch,
er sagt:
Deutschland soll bleiben, wie es ist.
Keine Flüchtlinge mehr. Deutsche Leitkultur.
Sie haben nichts getan, um ihren Platz hier zu verdienen.
Mein Vater fragt, was er für seinen eigenen Platz getan hat:
Was wäre, wenn du in Syrien geboren wärst?
Seine Antwort:
Bin ich aber nicht.

 

Zoё Matt-Williams (18)

ist in Berlin zweisprachig aufgewachsen, ihre Mutter ist Deutsche, der Vater stammt aus den USA. Ihre Familie in den USA sieht sie nur sehr selten. Zoё ging auf die internationale John-F.-Kennedy-Schule in Berlin und besucht mittlerweile die University of Cambridge, um Literatur zu studieren.
Robina Karimi | Foto © Rottkay

Ist es ein Verbrechen, Afghanin zu sein?

Robina Karimi

Kabul, Afghanistan

 

Ist es ein Verbrechen,
in Afghanistan auf die Welt gekommen zu sein?

Warum ich das frage?
Weil man als Afghanin überall auf der Welt auf Missachtung trifft.
Warum steht einem als Afghanin im Iran keine Bildung zu?
Warum erhalten wir Afghanen in Deutschland
nicht denselben Aufenthaltsstatus wie andere Geflüchtete?
Auch wenn wir in einem anderen Land als Afghanistan geboren werden,
werden wir dennoch als Afghanen stigmatisiert.
Auch wenn wir das Land in unserem Leben nie gesehen haben,
werden wir nur auf unser Afghanisch-Sein herabgewürdigt – oder sagen wir besser:
gering geschätzt.

Glaubt ihr wirklich,
es ist einfach, seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester zu verlassen?

Glaubt ihr wirklich,
es ist einfach, allein und fern seiner Liebsten zu leben?

Glaubt ihr wirklich,
wir wollen aus Vergnügen allein sein?
Nur Gott ist dazu bestimmt, allein zu sein.
Nur Gott allein.

Und so bitte ich Sie, in allen Ländern in denen wir Afghanen uns befinden
und versuchen zu leben – hört auf, uns zu quälen.
Jedes Land bringt seine Wohltäter, Genies und Verbrecher hervor.

Warum aber werden wir, als Afghanen,
allesamt dafür bestraft, wenn sich jemand jenseits der Norm oder schlecht verhält? Warum wird auf uns alle mit dem Finger gezeigt?
Es ist kein Verbrechen, Afghanin zu sein.
Denn: Auch ich bin ein Mensch.

 

Robina Karimi (17),

floh allein aus Kabul. Sie schildert das Misstrauen, mit dem sie als Afghanin zu kämpfen hat.

Unser Haus

Amir Shaduli

Shingal, Irak

 

Wir hatten ein Haus, wir haben es selbst gebaut.
Mit Steinen die Wände, ihre Farben
rochen hell und dunkel und die Fenster waren
sehr groß, wir öffneten sie und schauten ins Freie.
Im Haus war der Boden mit Keramik gefliest und manchmal
hörte ich Nachbarn und die Straße.
Alles im Haus war besonders.
Es gab nur meine Familie und mich.
Das war mein Lieblingshaus, wir haben es selbst gebaut.

 

Amir Shaduli (23)

kam wegen des Kriegs aus seiner Heimatstadt Shingal im Nordirak nach Berlin. Kurdisch ist seine Muttersprache. In Wittenau besucht er die Emil-Fischer-Schule und möchte nach seinem Abschluss eine Ausbildung zum Friseur machen.
Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Der einzige Sohn

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

65 Menschen waren auf dem Boot.
Der Schmuggler deutete auf einen Berg –
dort ist Griechenland, sagte er.

Das Wasser fiel wie Wände auf uns herab.
Der Motor stoppte.
Es waren viele Kinder im Boot.
Es kenterte.

Ich kann nicht schwimmen.

Zwei Minuten blieb ich unter Wasser,
die rote Weste zog mich an die Oberfläche.
Ich hatte furchtbare Angst.

Es war
sehr kalt.
Alle schrien. Ich auch. Vor mir war ein Kind.

Ich tröstete es, du musst
nicht weinen, und ich wusste es doch besser.

Eine Mutter ertrank vor
meinen Augen, ihr Kind im Arm.
Zwei Stunden, dann kam das Boot,
uns zu retten.
Überlebt haben 20 Menschen.
Die kleinen Kinder waren alle tot.

Ein Junge, er war so alt wie ich,
saß neben mir im Rettungsboot.
Er schrie immerfort
»Mutter, Mutter«.
Ich fragte ihn, warum weinst du?

Er sagte, seine Familie, sieben Menschen,
sie seien gestorben.
Ich fragte mich, wer hätte meinen
Eltern gesagt, wenn ich im Meer ertrunken wäre?
Ich bin der einzige Sohn.

Ärzte warteten.
Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten.
Sie bargen nur acht Tote.
Wir Überlebenden kamen ins Krankenhaus.

Acht Tage und acht Nächte habe ich geschlafen.
Und jeder Tag im Krankenhaus kam mir vor wie ein Jahr.

Als ich losfuhr aus der Türkei, hatte ich 100 Dollar.
Sie gingen im Wasser verloren.

Am 20. Tag rief ich zu Hause an.

Mutter sagte, warum hast du dich nicht gemeldet?
Drei Tage habe ich nicht gegessen vor Sorge.
Ich sagte, ich sei wohlbehalten angekommen,
nur hätte ich das Geld für das Telefon nicht gehabt.

Wie konnte ich ihr sagen, dass ich
zehn Tage nur Kakao zu mir nehmen konnte, weil
mein Körper voller Salzwasser war?

 

mehr: Shahzamir Hataki

Nimruz

Samiullah Rasouli

Ghazni, Afghanistan

 

Wir saßen auf der Ladefläche des Transporters,
in der Wüste von Nimruz, als wir sieben Leichen sahen.
Wer hatte diese armen Menschen umgebracht?
Alle stiegen aus, um die Toten anzusehen.
Die Männer waren jung, 20, 21 Jahre alt,
alle tot, bis auf einen.

Er atmete noch.

Das Blut an seinem Körper war bereits getrocknet.
Wir fragten ihn: »Was ist passiert?«
Er sagte leise: »Räuber.«
Sie waren überfallen und ausgeraubt worden.
Der Sterbende warnte uns:
»Diebe, Diebe, nehmt einen
anderen Weg.«
Wir flohen und ließen ihn liegen.

Hätte ich etwas anderes machen können?

 

mehr: Samiullah Rasouli

Vater

Samiullah Rasouli

Ghazni, Afghanistan

 

Hundert Küsse sende ich dem Staub,
den deine Füße aufwirbeln.
Hundertmal Wehmut musstest du erleiden, um Brot zu finden.
Könnte ich doch zu den Schwielen deiner Hand werden.

Nicht einmal klagtest du und sagtest, du seist müde.
Ich verneige mich vor deinem Opfer.
So wie man um die Kaaba kreist,
will ich um dich kreisen.
Aber auch das reichte nicht,
um deine Mühsal aufzuwiegen.

 

Samiullah Rasouli

Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Ohne Dich

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

Das Leben hier zu führen ohne dich,
ist schwierig, Vater.
 
Ich bin durstig nach deinen Tränen.
 
Auch das Weinen hier unter diesen Leuten ist schwierig, Vater. 
Wenn du jetzt dort schreitest und über Dornen gehst, Vater,
spüre ich die Schmerzen deiner Füße. 
Ich wünschte, mich in deine Arme zu werfen.
 
Dich aus dieser Entfernung zu küssen, ist schwierig, Vater. 
Meine Lippen würde ich abreißen dafür,
aber ohne Lippen zu trauern, ist schwierig, Vater. 

Du bist die schönste Blume in einem Feld von Blumen.
Du bist die Farbe der Sonne, die sich zum Abend neigt.
Du leuchtest wie die Sterne, mein Vater,
und du bist hell wie der Mond.

Foto © Rottkay

Shahzamir Hataki (*2000)

Shahzamir Hataki aus Mazar-e-Sharif, Afghanistan, ist der einzige Sohn seiner Eltern. Sie wollten sein Überleben und seine Zukunft sichern und schickten ihn deshalb fort. Auf der Überfahrt nach Griechenland sank das Boot und Shahzamir entging nur knapp dem Tod. Foto © Rottkay