Kahel Kaschmiri | Foto © Rottkay

Mein letzter Sommer in Afghanistan

Kahel Kaschmiri

Ghazni, Afghanistan

 

…war heiß, die Sonnenstrahlen brannten, so sehr,
daß ich kaum arbeiten konnte.
Aber kann es sein, daß man nicht arbeitet?
Nicht zu arbeiten bedeutet, zu hungern und auf der Straße zu leben. Wo hätten ich und meine Familie Unterschlupf gefunden?
Ich benetzte mein Gesicht mit Wasser, zog ein dünnes weißes Hemd an, und ging zum Bazar, um mich um die Kunden im Geschäft zu kümmern.

In Berlin dagegen habe ich den Sommer gar nicht mitbekommen. Es war fast immer kalt. Nur einige Tage war es heiß. Und dann liefen alle nackt durch die Straßen.
Oder lagen in den Parks. Oder gingen schwimmen. Und ich war verblüfft, wie ging das, daß sie nackt durch die Straßen laufen und im Park liegen und abends noch etwas zu Essen finden?
Aber der Sommer in Afghanistan war nicht nur heiß.
Er schmerzte. Es waren die Schmerzen meiner Mutter.
Die Armut und die Verzweiflung meines Vaters.
Die Ausweglosigkeit meiner Schwester, die sich vor den gierigen Blicken von Kopf bis Fuß verhüllen musste. Schließlich hat man sie verheiratet, obwohl sie jünger ist als ich. Und jetzt hat sie schon einen Sohn. Ich frage mich, ist das ihr Sohn - oder ist das ihre Puppe?

In meinem letzten Sommer in Afghanistan hat auf meinem Weg zur Arbeit ein bewaffneter Motorradfahrer einen Polizisten erschossen. Er flüchtete. Dieser Polizist war frisch verheiratet. Es war der Beginn seines Lebens. Er wollte nur seiner Arbeit nachgehen und Geld verdienen.
Aber er starb in einer Sekunde.
Bis die Polizisten kamen, war er schon aus der Welt geschieden.

Wollt ihr, daß ich euch nochmal von meinem letzten Sommer in Afghanistan erzähle?

Ich liebte es, Motorrad zu fahren, umherzustreifen und Gas zu geben. Die Luft wehte in mein Gesicht und die Sonne schien und ich gab Gas. Ich dachte nur an die schöne Natur von Ghazni und beschleunigte.
Auf einmal überholte mich ein Auto. Es fuhr langsamer. Der Fahrer gab mir Zeichen. Halt an!
Ich bekam Angst. Ich gab Gas und flüchtete. Ich rief meinen Cousin an: Ich rief: »Öffne das Tor, hinter mir sind Leute her. Sie wollen mich entführen.«
Es waren die, die hinter den schönen Jungen her sind.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit flog ich in seine Richtung, in sein Haus. Er öffnete das Tor und ich stürzte hinein.
Ich atmete durch und dankte Gott.

Wollt ihr, daß ich euch nochmal von meinem letzten Sommer in Afghanistan erzähle?

Nach einem Jahr in der Fremde war ich froh, endlich eine Bleibe gefunden zu haben, ein Zimmer nur für mich selbst.
Vier Wände hatte ich für mich, sowie einen Schlüssel für eine Tür, über den ich selbst verfügen konnte.
Ich seufzte, öffnete die Tür und schlief vor Erschöpfung ein.

Meine Augen waren noch nicht ganz geschlossen, da öffnete sich eine Tür und ich fühlte die Schwere der Anwesenheit von jemandem. Ich hielt die Augen geschlossen, die Decke über das Gesicht.
Plötzlich spürte ich die Schwere seines Körpers auf meinem Körper, und der Schweiß brach mir aus. Ich begann zu zittern.
Ich öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus.
Ich hörte das Wesen sagen: Was machst du hier und warum bist du hierher gekommen?
Ich fing an zu schreien, so laut, daß ich von meinem eigenen Schrei erwachte.

Er war fort und ich fragte mich, wer es wohl gewesen sei?

Kurzporträt Kahel Kaschmiri

 

Michael Krasnov hat sich mit »Mein letzter Sommer in Berlin« auf diesen Text bezogen.
Kahel Kaschmiri | Foto © Rottkay

Mutter

Kahel Kaschmiri

Ghazni, Afghanistan

 

Wärest Du doch hier,
ich würde deine Füße küssen.
Ich würde mich verneigen vor dir
und Dein Antlitz küssen.

Überall wo du hingingst und verweiltest,
möchte ich hingehen und weinen.

Foro © Rottkay

Kahel Kaschmiri (*2000)

Kahel Kaschmiri wuchs in der afghanischen Provinz Ghazni auf. Ein Miliz-Kommandeur hatte es auf den Jungen abgesehen. Kahel floh durch den Iran, im Kofferraum eines Schleppers. In Deutschland wundert er sich über das Leben der Europäer. Foto © Rottkay

Die zerrissenen Schuhe

Kahel Kaschmiri

Ghazni, Afghanistan

 

Am Tag meiner Abreise aus Ghazni nahm Mutter den Koran und ich ging unter ihm durch, als Geste der heilen Ankunft. Ich war 14 Jahre alt in jenem August, als ich aufbrach nach Europa. Es war ein Weg voller Schrecken und Ängste. Ich hatte kaum Geld und wenig zu essen, das Schlimmste aber auf diesem Weg waren die Menschen, deren Charakter hungrigen Wölfen glich, nur darauf aus, einem etwas anzutun. 

Ich überquerte Grenze für Grenze, bis die Schlepper schließlich sagten: „Das ist die Grenze zu Deutschland.“ An diesen Moment erinnere ich mich genau. Denn es war ein wenig wie damals, als ich mit meinen Eltern nach Pakistan flüchtete. Ich war noch ein sehr kleiner Junge und in Afghanistan konnten wir weder Brot noch Frieden finden. Mit dieser Auswanderung nach Pakistan verbinde ich nichts Gutes, denn nichts war besser dort. Vier Jahre später kehrten wir deshalb wieder nach Afghanistan zurück. 

Die Angst ergriff mich vor der deutschen Grenze. Würde es wieder so sein wie damals, in Pakistan? Wird es wirklich besser sein als in Afghanistan? Ich fragte mich: Soll ich jetzt weiter gehen oder nicht? Und wie kann ich in Deutschland sein, allein, ohne Familie? Der Schlepper sagte: „Geh nun allein deinen Weg.“ 

Ich überquerte die Grenze, stieg in einen Zug und fuhr in eine unbekannte Stadt. Wir waren eine kleine Gruppe. Als wir ankamen, sagte man uns, wir seien in Berlin. Man schickte uns in eine Unterkunft für junge Geflüchtete. Sechs Monate waren wir dort, ohne Plan, ohne Schule. Nichts geschah. Das nächste Heim war etwas schöner. Aber die Atmosphäre war stets angespannt. Ältere Flüchtlinge tranken Alkohol und konsumierten Haschisch. Sie stritten. Es gab ständig Prügeleien. Wir Jüngeren wussten oft nicht, wie wir uns wehren sollten. Nachts hielt ich mich deshalb lieber auf den Straßen auf als im Heim. Irgendwann hörte ich auf zu essen und wurde krank. Eine Betreuerin bemerkte dies. Sie wollte nicht, dass ich mich nachts auf den Straßen aufhielt. Eines Tages lud sie mich ein, zu ihr nach Hause zu kommen. Das war mein Glück. Wir sprachen viel miteinander und lange. Endlich schlief ich erschöpft auf ihrer Couch ein. Ich schlief so fest wie ein Stein.

Dann kam ich in eine Wohngemeinschaft. Es war schön dort, ich hatte sogar ein eigenes Zimmer. Doch plötzlich plagten mich wieder Gefühle der Furcht. Gedanken aus der Vergangenheit kamen zurück und schlichen sich in meine Träume. Nachts fragte mich eine Stimme: „Was tust du hier, in Deutschland?“ Was für eine Stimme war das? Sie verfolgte mich wie ein böser Geist. „Was tust du hier?“ Immer wieder diese Frage in meinem Kopf.

Ich komme aus Ghazni, einer Provinz 200 Kilometer westlich von Kabul. Als wir damals zurückkehrten aus Pakistan, brachte mich mein Vater am ersten Tag zur Schule und sagte, ich solle danach allein wieder nach Hause kommen. Ein Lehrer nahm meine Hand und brachte mich in die neue Klasse. In den vier Jahren, in denen wir als Flüchtlinge in Pakistan lebten, hatte ich unsere eigene Sprache, Dari, fast verlernt. Anfangs schämte ich mich, überhaupt zu sprechen, die Worte kamen nur langsam zurück. Die Lebensumstände in Ghazni hatten sich aber in den Jahren, in denen wir fort waren, nicht verbessert. Weiterhin herrschte Krieg und wieder gab es kaum Arbeit. Mein Vater kam abends immer todmüde aus der Stadt zurück, er versuchte, Gas zu verkaufen. Meine Mutter war den ganzen Tag mit Kochen und dem Haushalt beschäftigt. Drei Jahre ging ich zur Schule, mit alten Hemden, zerrissenen Schuhen und einem leeren Magen. Nach Schulschluss musste ich mich immer beeilen, schnell nach Hause zu kommen, um meinem Bruder meine Schuhe zu geben. Wir hatten nur dieses eine Paar Schuhe und ich gab es ihm, damit auch er zur Schule gehen konnte, in die Nachmittagsschicht. 

Auf dem Weg in die Schule störte mich etwas. Die Männer. Sie waren so alt wie mein Vater. Diese Männer warfen mir falsche Blicke zu. Diese Männer boten mir Geld an. Ich war aber zu jung, um zu verstehen, was diese Männer von mir wollten. Eines Tages, auf dem Nachhauseweg von der Schule, griffen mich diese Männer an. Ich schrie und mein Geschrei alarmierte die Polizei. Die Männer ließen ab von mir und ein Polizist brachte mich nach Hause. Doch dieses Ereignis änderte alles. Es bedeutete, dass ich nicht mehr zur Schule gehen konnte.

Ich fing an, in einem Fahrradladen nahe unserer Wohnung zu arbeiten. Ich war neun Jahre alt und machte mir Gedanken, wie ich meinem Vater helfen könnte. Ich beschloss, Geld für meine Familie zu verdienen. Möglichst viel Geld. Mein Ziel war, Zement zu kaufen. Es hieß, die Stadt würde wiederaufgebaut und viele Menschen kehrten aus dem Exil nach Afghanistan zurück. Ich hatte gehört, der Verkauf von Zement sei ein ausgezeichnetes Geschäft. Es wurde sehr viel Zement benötigt in dieser Zeit in Ghazni. Ich wollte den Zement im Basar von Delaram kaufen, einer Stadt sechs Stunden mit dem Bus von Ghazni, und ihn dann in meiner Heimatstadt wieder verkaufen. 

Früh am Morgen verabschiedete ich mich von meinen Eltern, nahm meinen Bruder in den Arm und ging zum Busbahnhof. Die Straße schlängelte sich durchs Gebirge, die Sonne schien, ich war entspannt. Neugierig schaute ich mir die Landschaft an. Plötzlich tuschelten alle Passagiere aufgeregt. Leute sprachen von einem möglichen Angriff der Taliban, wir waren durch eine von den Taliban regierte Gegend gefahren. Ich erschrak. Doch durch die Busfenster konnte ich nichts Auffälliges erkennen.
Wir erreichten unbeschadet die Stadt. 

Ich fand ein Zimmer, legte meine Sachen dort ab und ging gleich zum Basar. Der Verkäufer fragte mich nach meinem Alter und ich gab vor, etwas älter zu sein: siebzehn. Der Verkäufer sagte: „Du bist noch ein Kind“, und fragte weiter: „Was machst du hier, in dieser Stadt?“ Ich antwortete, ich sei aufgrund eines Handels hier, ich wolle Zement kaufen, um ihn in meiner Heimatstadt weiterzuverkaufen. Der Mann sah mich lange an. Dann mahnte er mich, ich solle aufpassen! Es gäbe in dieser Stadt viele Männer, die nur darauf aus seien, einen hübschen kleinen Jungen wie mich zu ergreifen. Er aber sei ein guter Mann und gebe mir nur einen nützlichen Rat. Er redete mir ins Gewissen: „Geh wieder nach Hause. Hier vergreifen sich Väter sogar an ihren eigenen Söhnen.” 

Mein Mut verflog. Wieder diese Männer, die Gefahr bedeuteten. Die Freude am Handel war mir plötzlich abhandengekommen und ich ging ängstlich in mein Zimmer. Unsicherheit ergriff mich und ich fand keine Ruhe. Am nächsten Tag stieg ich sofort wieder in den Bus und fuhr nach Hause. Ich hatte nicht einmal die Stadt von Delaram gesehen. Nach langem Überlegen kam mein Vater auf die Idee, das Grundstück, das wir besaßen, zu verkaufen. Er tat das für mich, damit ich nach Europa fliehen konnte, vor der Armut und vor den Männern. Zum Abschied küsste mich mein Vater traurig auf die Stirn und sagte „Geh in Frieden und in eine erfolgreiche Zukunft.“ Ich verabschiedete mich und ging.

Wie es mir jetzt geht? In Deutschland? Das Verständnis und die beruhigende Zuwendung der Betreuerin lassen mich inzwischen mit einer gewissen Hoffnung in die Zukunft sehen. Sie gibt mir das Gefühl einer schützenden Mutter und doch bin ich oft einsam, denn meine Mutter und alle, die mir lieb sind, sind in Ghazni geblieben. Ich gehe jetzt in die Schule. Ich lerne Deutsch. Ich habe ein Praktikum gemacht, im Krankenhaus. Es hat mir gefallen. 

Doch die Ungewissheit nagt an mir, ob ich gehen muss oder werde bleiben können. 

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