Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Über Sicherheit und kleine Freiheiten in Deutschland

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

Junge Frauen dürfen einen Freund haben hier.
Sie können zusammen ausgehen und Dinge unternehmen.
Afghanische Mädchen dürfen das nicht,
außer sie sind alt genug.

Dann sucht man einen Ehemann,
und es gibt eine Hochzeit.
Bis zur Hochzeitsnacht sehen sie den Ehemann nicht.

Zwei Autos in Berlin hatten einen Unfall.
Nicht mal Minuten vergingen,
und die Polizei war da, mit Blaulicht.
In Afghanistan hätten sich die Fahrer geprügelt,
und Stunden später wäre die Polizei erschienen.
Dabei war nichts passiert, nur ein Kratzer.

Die Menschen hier gehen abends durch die Straßen,
nicht in Afghanistan. Wenn ein junger Afghane aus dem Haus tritt, weiß er nicht, ob er wieder zurückkehren wird. Er verabschiedet sich für immer. Wenn ein junger Afghane aus dem Haus geht, hat er vermutlich Geld, er kann entführt werden. Wenn er etwas hübscher ist, werden sie
andere Dinge mit ihm anstellen oder ihn mit einer Bombe in die Luft jagen. So ist es nicht in Europa.

 

Shahzamir Hataki

Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Der einzige Sohn

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

65 Menschen waren auf dem Boot.
Der Schmuggler deutete auf einen Berg –
dort ist Griechenland, sagte er.

Das Wasser fiel wie Wände auf uns herab.
Der Motor stoppte.
Es waren viele Kinder im Boot.
Es kenterte.

Ich kann nicht schwimmen.

Zwei Minuten blieb ich unter Wasser,
die rote Weste zog mich an die Oberfläche.
Ich hatte furchtbare Angst.

Es war
sehr kalt.
Alle schrien. Ich auch. Vor mir war ein Kind.

Ich tröstete es, du musst
nicht weinen, und ich wusste es doch besser.

Eine Mutter ertrank vor
meinen Augen, ihr Kind im Arm.
Zwei Stunden, dann kam das Boot,
uns zu retten.
Überlebt haben 20 Menschen.
Die kleinen Kinder waren alle tot.

Ein Junge, er war so alt wie ich,
saß neben mir im Rettungsboot.
Er schrie immerfort
»Mutter, Mutter«.
Ich fragte ihn, warum weinst du?

Er sagte, seine Familie, sieben Menschen,
sie seien gestorben.
Ich fragte mich, wer hätte meinen
Eltern gesagt, wenn ich im Meer ertrunken wäre?
Ich bin der einzige Sohn.

Ärzte warteten.
Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten.
Sie bargen nur acht Tote.
Wir Überlebenden kamen ins Krankenhaus.

Acht Tage und acht Nächte habe ich geschlafen.
Und jeder Tag im Krankenhaus kam mir vor wie ein Jahr.

Als ich losfuhr aus der Türkei, hatte ich 100 Dollar.
Sie gingen im Wasser verloren.

Am 20. Tag rief ich zu Hause an.

Mutter sagte, warum hast du dich nicht gemeldet?
Drei Tage habe ich nicht gegessen vor Sorge.
Ich sagte, ich sei wohlbehalten angekommen,
nur hätte ich das Geld für das Telefon nicht gehabt.

Wie konnte ich ihr sagen, dass ich
zehn Tage nur Kakao zu mir nehmen konnte, weil
mein Körper voller Salzwasser war?

 

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Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Ohne Dich

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

Das Leben hier zu führen ohne dich,
ist schwierig, Vater.
 
Ich bin durstig nach deinen Tränen.
 
Auch das Weinen hier unter diesen Leuten ist schwierig, Vater. 
Wenn du jetzt dort schreitest und über Dornen gehst, Vater,
spüre ich die Schmerzen deiner Füße. 
Ich wünschte, mich in deine Arme zu werfen.
 
Dich aus dieser Entfernung zu küssen, ist schwierig, Vater. 
Meine Lippen würde ich abreißen dafür,
aber ohne Lippen zu trauern, ist schwierig, Vater. 

Du bist die schönste Blume in einem Feld von Blumen.
Du bist die Farbe der Sonne, die sich zum Abend neigt.
Du leuchtest wie die Sterne, mein Vater,
und du bist hell wie der Mond.

Foto © Rottkay

Shahzamir Hataki (*2000)

Shahzamir Hataki aus Mazar-e-Sharif, Afghanistan, ist der einzige Sohn seiner Eltern. Sie wollten sein Überleben und seine Zukunft sichern und schickten ihn deshalb fort. Auf der Überfahrt nach Griechenland sank das Boot und Shahzamir entging nur knapp dem Tod. Foto © Rottkay

Löwenherz

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

Die Sache mit Tamina und Tahwab ist jetzt lange her, sie geschah in meiner Heimatstadt Mazar-e-Sharif. Man erzählt sich die Geschichte noch heute.

Tamina studierte Jura, wie Tahwab. Die beiden lernten sich zu einer Zeit kennen, als Männer und Frauen gemeinsam studieren und dieselben Seminare besuchen durften. Tamina lebte in einem kleinen Haus mit ihren Eltern. Ihr Familienname war derselbe wie meiner: Hataki. Sie war groß, sehr begabt, hatte offene, lange schwarze Haare und trug schöne bunte Kleider. Damals war Tamina 24 Jahre alt, und niemand wusste von ihrer Liebe zu Tahwab. Tahwab war zwei Jahre älter. Er wollte sie heiraten, bevor jemand von ihrer Beziehung erfuhr. Aber Taminas Familie war nicht bereit, in die Heirat einzuwilligen. Zweimal hat Tahwab es versucht.

In unserem Land wird es als große Schande angesehen, wenn sich ein Mädchen in einen Jungen verliebt, sie befleckt damit den Namen ihrer Familie. In Afghanistan gilt der Name einer Familie alles und ihr Ruf ist von größter Bedeutung. Tamina und Tahwab beschlossen also eines Nachts, nach Pakistan zu fliehen. Sie wollten ein ganz neues Leben beginnen, allein und weit weg von ihrer Familie. Aber geht das überhaupt? Wenn Tahwab und Tamina nicht geflohen wären, wären sie von Taminas Familie womöglich getötet worden oder wären ins Gefängnis gekommen, denn ein Mitstudent der beiden hatte von ihrer Beziehung erfahren – und er hatte Taminas Familie davon erzählt. Durch Tamina und Tahwab und wie die Menschen über ihre Liebe sprachen, habe ich gehört, was die Liebe ist. Ich war damals noch ein Kind. Und ich verstand nicht, was mahschuck, liebestoll – wie die Leute in meinem Land sagen – bedeutet.

Bis dahin hatte ich ein einfaches Leben geführt. Ich hatte nur meinen Vater und meine Mutter geliebt. Was Liebe oder Leidenschaft noch bedeuten kann, wusste ich nicht. Jeden, den ich wegen seiner Liebe weinen sah, habe ich ausgelacht und aufgezogen. Ich sagte dann immer, dass es eine solche leidenschaftliche Liebe doch nur in Filmen und in Büchern gibt. Da konnte ich noch nicht ahnen, dass mir das eines Tages selbst passieren würde.

Bevor ich meine Flucht antrat, wusste ich, dass man sich in Europa auf eine andere Weise verliebt als bei uns. Mädchen und Jungen können sich in Europa sehr einfach treffen und miteinander ausgehen. Sie sind für eine Weile zusammen und trennen sich vielleicht wieder. Ich kannte das ja aus Büchern und Filmen. Und manchmal fragte ich mich, wie es wohl wäre, wenn ein Junge wie ich aus Afghanistan nach Europa kommt. Würde sich ein Mädchen für mich interessieren? Oder würde mich keine anschauen? Hätten die Mädchen Angst, weil ich ein Flüchtling bin? Es hat lange gedauert, bis ich ein Mädchen kennenlernte. Nun kann ich die Geschichte erzählen.

Als ich sie an einem Frühlingstag sah, hatte ich das Gefühl, ich würde sie schon lange kennen. Ich habe sie bei einer Veranstaltung getroffen, auf der ich meine Gedichte vortrug. Sie war mit ihrer Klasse gekommen, in Begleitung ihrer Freundinnen. Nach einigen Tagen fragte ich meinen Freund nach ihrer Nummer. Er hatte auf der Veranstaltung Fotos gemacht und sie den Mädchen per Handy geschickt. Sie antwortete sofort. Seitdem schrieben wir uns fast drei Monate lang Nachrichten. Dann trafen wir uns zum ersten Mal. 

Ihr verliebtes Gesicht war das schönste Gesicht, das ich in meinem Leben gesehen habe. Ihre Stimme war die schönste Stimme, die ich in meinem Leben gehört habe. Die Liebe zu ihr war das schönste Gefühl, das ich in meinem Leben erlebt habe. Die Zeit mit ihr war die schönste Zeit meines Lebens. Sogar das Warten auf sie war das schönste Warten meines Lebens. 

Wir waren sieben Monate zusammen. Für mich waren es keine sieben Monate, sondern sieben Jahre. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine solche Liebe enden kann. Bis sie mir eines Tages schrieb, dass sie nicht mehr meine Freundin sein wollte. Für einen Moment verlor ich tatsächlich das Bewusstsein, und als ich wieder erwachte, habe so viel geweint und geklagt, dass ich jetzt nicht weiter weinen und weiter klagen kann. Man sagt, dass Liebe und Leidenschaft wie ein starker Sturm sind.

Wenn der Sturm ausbricht, werden Bäume entwurzelt. Und wenn du sehr verliebt bist und eine Person mehr liebst als alles andere, geht auch die Liebe selbst verloren. Bäume, die von der Natur verletzt werden, können sich wieder erholen. Aber Menschen, die Schmerzen erfahren haben, können das nicht so leicht. So wie ich, der ich nicht wieder zurück ins Leben finde. 

 

Ich habe dich gebeten, mich nochmals zu sehen.
Aber du bist nicht gekommen.
Ich habe dich gebeten, noch einmal deine Stimme zu hören.
Doch du sprachst kein Wort.
Ich wollte deine Hand noch einmal in meine nehmen.
Doch meine Hand blieb leer. 

Mein lieber Gott.
Wieder schreibe ich.
Wieder beschwere ich mich.
Wieder gieße ich Tränen
vor den Füßen der Menschen aus,
die mich allein gelassen haben.
Du hörst mich.
Aber du antwortest nie.
Ja, du bist immer neben mir.
Aber warum lässt du zu,
dass ich so einsam bin? 

 

Langsam verstehe ich die Worte, die sie mir gesagt hat. Erinnerst du dich? Der Tag, an dem sie für immer von mir weggehen wollte und mir sagte: „Ich liebe dich nicht mehr.“ Nur du allein, Gott, kannst das, einsam sein. Auch ich bin allein auf diese Welt gekommen, und ich werde allein von dieser Welt gehen müssen. Aber es ist ein anderes Alleinsein, wenn du verlassen wirst. Wenn sie traurig war, war auch ich traurig. Wenn sie glücklich war, war auch ich glücklich. Nun überlasse ich sie dir. Sitz bitte immer neben ihr. Wie ich es getan habe. Ich liebe sie. Lieber Gott, liebe sie bitte nicht nur, wie ein Gott einen Menschen liebt.
Sondern auch so, wie ich sie liebe. 

An dem Tag, an dem mich meine Liebe verließ, die erste meines Lebens, rief mich mein Vater in Afghanistan an. Er sagte: „Ich habe dir viel von der Liebe erzählt, aber ich habe dir nicht erzählt, wie sich die Liebe anfühlt. Jetzt kann ich nicht in deiner Nähe sein, sodass ich mein Herz mit deinem Herzen tauschen könnte.“ Ich sagte ihm: „Legtest du nur deine Hand auf meinen Kopf, führest du nur durch mein Haar, wie du es immer tatest, ich könnte mich beruhigen.” 

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Shahzamir Hataki | Foto © Rottkay

Rausch und Wahn

Shahzamir Hataki

Mazar-e-Sharif, Afghanistan

 

Liebe ist ein Rausch und Wahn
und fremd zur Welt,
Sie sitzt immer da, von der Dämmerung bis zum Morgenrot.
Liebe bedeutet ein Lächeln in nass geweinten Augen,
Liebe bedeutet, sein Leben wegzuwerfen.
Liebe bedeutet, Tränen zu vergießen.
Liebe bedeutet, zu sein und dabei zu verbrennen.
Liebe bedeutet, sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Erlitte ich nicht diesen Schmerz,
mein Antlitz hätte nicht den Ausdruck der Enttäuschung.

Wäre die letzte Seite der Liebe doch die Nachricht,
dass der Regen noch aufhört.

Hätte ich gewusst, dass Liebe sowas macht,
hätte ich die Liebe angekettet.

Foto © Rottkay

Shahzamir Hataki (*2000)

Shahzamir Hataki aus Mazar-e-Sharif, Afghanistan, ist der einzige Sohn seiner Eltern. Sie wollten sein Überleben und seine Zukunft sichern und schickten ihn deshalb fort. Auf der Überfahrt nach Griechenland sank das Boot und Shahzamir entging nur knapp dem Tod. Foto © Rottkay