Reportagen von Analphabet*innen

Von den literarischen Reportagen fürs Literaturfestival haben wir uns zu einem neuen Workshopformat inspirieren lassen, in dessen Rahmen wir die Lebensläufe einer Gruppe Analphabet*innen mit Fluchthintergrund aufgezeichnet haben. Mithilfe einer iranischen Sozialarbeiterin wurden lange individuelle Gespräche geführt, um den Geschichten der jungen Menschen gerecht zu werden.

Jenseits der Buchstaben

Arash* Ghazni, Afghanistan   Sehr früh habe ich bemerkt, dass ich erwachsen werden muss und als ältester Sohn meiner Familie helfen. Man hat vor meinen Augen meinen Vater weggebracht. Ich erfuhr von seinem Tod, ohne ihn je wieder gesehen zu haben. Mein Vater hatte sich einer politischen Gruppe angeschlossen, die gegen Taliban und Sunniten kämpfte und wurde deshalb verfolgt. Da...

Die Suche nach meiner Stimme

Rasul* Ghazni, Afghanistan   Als ich jung war, fiel es mir schwer zu sprechen. Oft stand ich wie versteinert da und konnte keine Reaktion zeigen. Ich stand auch wie versteinert, als die Taliban meinen Vater aus dem dritten Stockwerk eines Gebäudes stießen.   Ich war damals sechs Jahre alt und lebte mit meiner Familie in der Provinz Ghazni. Insgesamt waren...

Von Schafen und Wölfen

Omid* Char Darah, Afghanistan   Ich kann den letzten Tag in Afghanistan nicht vergessen. Mein Vater war wie immer ernst und fragte in seiner trockenen Art: Bist du bereit? Und es näherte sich der Moment des Abschieds. Ein Auto mit Schleppern vor unserer Tür wartete darauf, mich mitzunehmen. Zum Auto war es nicht besonders  weit, doch der Weg kam mir...

Weil ich Hazara bin

Ali Reza* Daku Tabe, Afghanistan   Manchmal fließen Tränen, wenn ich an meine Heimat denke, ich denke viel über sie nach. Wie nah liegen Freude und Leid beieinander? Wie konnte sich ein gutes Schicksal auf einmal in ein schlechtes wenden, warum wurde aus Glück plötzlich Trauer? Wenn ich an meine Kindheit im Dorf denke, vermisse ich die Tiere, mit denen...

Gefangener meiner Geschichte

Morteza* Ghazni, Afghanistan   Ich habe sehr schlechte Erinnerungen an meine Kindheit in Afghanistan. Ich wuchs in Ghazni auf, in der Nähe von Kabul, und habe mich schon immer gefragt, warum meine Eltern und meine älteren Schwestern mich nicht allein ließen.  Wir standen uns nicht sehr nahe, dennoch hatten sie ständig Angst, mir könnte etwas Schlimmes zustoßen. Ich durfte nicht...

Sternenkind

Azma* Kunduz, Afghanistan   Es ist der neunte Monat, ich befinde mich in den letzten Tagen meiner Schwangerschaft. Sehnlichst warte ich auf die Geburt meiner Tochter, bin bereits im Krankenhaus registriert. Ich kann sie fühlen, ich spreche in Gedanken zu ihr. Wir hatten es nie sehr leicht in Deutschland, eine erste Ablehnung haben mein Mann und ich bereits bekommen. Auf...