Als ich sieben Jahre alt bin, ziehen wir in die von den 90ern misshandelte, von Armut erwürgte Stadt, wo die Fische auf der Wasseroberfläche schwimmen. Die Sonne und die Meeresbrise lächeln, die Ruinen der Landungsbrücken und die rostzerfressenen Schiffe rufen Hoffnungslosigkeit hervor. Du läufst umher, der Geruch von Blumen und Grillfleisch beflügelt, der Bandenkrieg nach den Wahlen reißt dir die Flügel aus.
Sieben weitere Jahre und die Graphic Novel meiner Seele fängt langsam an, durch Eltern und Altersgenossen zu verwischen. Erst die Beine: Ich bin von den Ressourcen meiner Eltern abhängig, von ihrem Weltwissen, deswegen kann ich nicht einfach gehen, wohin ich will. Ich bin auf den durch sie gewählten Weg festgelegt, der sich bis zum Horizont des Lebens erstreckt. Ich muss mir dessen bewusst werden.
Im Spätsommer, nach der Abschlussfeier zur Mittleren Reife sitze ich auf einer Bank im Hof, während meine Freunde sich irgendwo herumtreiben. Die heiße und zärtliche Sonne kitzelt mich durch die Äste der in voller Blüte stehenden Bäume. Die Beete sind Blumenpaläste. Im Verborgenen bereiten sich die Spinnen bereits vor, Segel zu weben, in denen sich oft arme Hinterwäldler, ihre Steppenopfer, verfangen.
In dieser sommerlichen Süße wird mir auf einmal unwohl. Ich spüre, wie ein Teil meines Kopfes verwischt. Meine Gedanken sind wie das Rauschen des Windes, an den sich alle gewöhnt haben. Mir ist schlecht. Ich hole möglichst tief Luft und blicke mich um. Eine Katze mit Fellbüscheln am Hals, nachdem sie von hiesigen cholerischen Hunden in die Mangel genommen wurde, isst Kutteln mit Brei neben dem Häuschen an der Einfahrt zum Hof. Manchmal fährt der Vater meines ehemals besten Freundes dort betrunken in seiner neuen Karre durch. Ich habe Angst, dass er früher oder später ins Häuschen knallt.
Ich beobachte eine Raupe. Sie kriecht wie in Zeitlupe und verschwindet aus dem Blickfeld.
Bereits zwei Wochen später lande ich an der Law School, wo die Herren meines Landes Menschen unterteilen in Idioten und Normalos, Puppen und Schlampen, Elite und Pöbel. Ihr Hitlergruß-Kompass zeigt stets Richtung Norden, unabhängig von ihrer Herkunft (Moldawier aus Odesa, Juden aus Winnyzja, Kyjiwer aus Archangelsk). Wenn ich in einem Universum mit ihnen gefangen bin, verstehe ich, dass ihre Beine und Köpfe nicht ausradiert wurden, sie genießen alle Freiheit, zu sprechen, zu fühlen, zu tun, zu denken, zu belehren, in Autos und Flugzeugen durch die Gegend zu düsen, feiern zu gehen, zu vergewaltigen, zu verarschen und zu stehlen. Ich hingegen bin ausradiert an den Schultern, am Körper, am Kopf, an den Beinen, kaum noch sichtbar für die Welt. Jeder meiner Schritte birgt das Risiko, dass ich mich komplett auslösche, im Sonnenlicht zerfalle, als hätte es mich nie gegeben. Die Wahl zwischen einem sofortigen Verschwinden und einem kriechenden, wie eine Raupe, einem langsamen Auflösen, mit einer Chance, so winzig klein wie ich selbst, nicht ganz zu verschwinden.
Der Prozess nimmt an Fahrt auf. Die grellen Striche fremder Vorstellung über mich stellen sich als wesentlich engerer Käfig heraus als ich dachte. Es sticht in der Brust, der Kopf brummt, die Beine fehlen, die Arme sind ab. Gleichzeitig legt jeder Atemzug frische Luft die verkrustete Wunde frei und der Schmerz treibt mich mit neuer Kraft in den Wahnsinn.
Wie wünsche ich mich zurück in eine Zeit ein paar Wochen davor: im kaputten Hof sitzen, alleine, in der Wärme unter den Ästen. Mit den Straßentieren, dem Geruch der Blumen, im Sepia der Strahlen, geblendet von der heißen und zärtlichen Sonne, die sich hinter den Horizont senkt. Zurück in die letzten Momente, in denen meine Existenz Ruhe und Freude kannte.