Ich kann den letzten Tag in Afghanistan nicht vergessen. Mein Vater war wie immer ernst und fragte in seiner trockenen Art: Bist du bereit? Und es näherte sich der Moment des Abschieds. Ein Auto mit Schleppern vor unserer Tür wartete darauf, mich mitzunehmen. Zum Auto war es nicht besonders weit, doch der Weg kam mir sehr lang vor und es fiel mir nicht leicht mich zu verabschieden, vor allem von meiner Mutter und meiner kleinen Schwester. Mein Herz war schwer vor Trauer und ich schluchzte, verschluckte mich an den Tränen, die ich aufzuhalten versuchte. Als Junge versucht man eben, seine Tränen zu verbergen. Ich packte alles Wichtige in meinen Rucksack, band mir die Schuhe in Gedanken an den Koran, für den Segen einer heilen Fahrt.

Während der Fahrt dachte ich an meine Heimat und das Dorf, das ich verlassen musste. Ich wollte auch selbst nicht mehr in dem Dorf leben; ich verband damit genügend Demütigungen, war sehr oft verletzt worden.

Seit mein Bruder geflohen ist,

kommt mir das Gesicht meines Vaters

wie versteinert vor.

Ich werde niemals die Tränen

im Gesicht meiner Mutter vergessen,

die von meiner verängstigten Schwester

umklammert wurde.

Als ich gerade erst neun Jahre alt war, spielte sich eine sehr traumatische Szene in meinem Leben ab. Da wir sehr arm waren und es kein fließendes Wasser im Haus gab, ging ich mit meiner Schwester an eine Quelle Wasser holen. Auf dem Weg zurück hielten uns zwei Taliban mit Gewalt auf und fragten mich, wo sich mein Bruder versteckt hielt. Ich weinte und antwortete schluchzend, dass ich es nicht wüsste. Ein Mullah kam mir zu Hilfe und ermahnte die bärtigen Männer, sagte ihnen, dass ich noch ein Kind sei. Er nahm mich bei der Hand und brachte mich zu meinen Eltern. Von da an fürchtete ich mich, das Haus zu verlassen und Freunde zu treffen; mein Vater hat sich danach entschlossen, mich als Schäfer in einem anderen Dorf arbeiten zu lassen.

Von da an hüteten ich und ein anderer Junge bis zu 600 Schafe am Tag. Von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends wachten wir über die Schafe, schützten sie vor hungrigen Wölfen und kennzeichneten sie mit unterschiedlichen Farben. Daher fehlte mir die Zeit, die Schule zu besuchen und Lesen und Schreiben zu lernen. Meine Verbindung zur Außenwelt war ein kleines Radio, auf dem ich usbekische Musik hörte. Ich verbrachte meine Zeit damit, die Schafe zu zählen und sie abends beisammen zu halten. Falls es dazu kam, dass die Schafe auf anderen Feldern fraßen, beschwerten sich die Feldbesitzer oder prügelten sogar auf uns ein. Die Schläge der Feldbesitzer sind die tragischsten Erinnerungen an mein Arbeitsleben als Schäfer. Aber es gab auch schöne Momente, nämlich wenn die Schafe gebaren. Jedes Mal, wenn ein Schafbaby auf die Welt kam, wickelte ich es in meine Jacke und spielte mit ihm. Das machte mich sehr glücklich.

Zwei Jahre arbeitete ich als Schäfer und durfte nur einmal im Monat meine Familie im Dorf besuchen. An diesen Tagen sah ich meine Eltern und Schwestern, aß mit ihnen und freute mich über die freundliche Art meiner Mutter. Sie wurde jedoch getrübt durch die Unfreundlichkeit und Grobheit meines Vaters. Es kam auch schonmal dazu, dass er mich prügelte. Als jüngster Sohn der Familie bin ich mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Mein ältester Bruder ist 40 Jahre alt, lebt in Iran und handelt dort mit Stoffen. Er ist mit zwei Frauen aus Afghanistan verheiratet, von denen er auch Kinder hat. Meine älteste Schwester hat nach ihrer Heirat die Familie in Kundus ebenfalls verlassen. So wie ich nicht die Schule besuchen konnte, konnten es meine Geschwister auch nicht. Sie sprachen Usbekisch, in der Schule wurde in Dari und Paschtu gelehrt. In meiner Familie, wie auch in unserem Dorf, sind fast alle Analphabeten. Nur ein Mullah in der Moschee konnte lesen und schreiben, lehrte den Menschen den Koran und das Beten und las ihnen ihre Briefe vor.

Meine Familie und ich hatten stets sehr große Probleme mit den Taliban, weil mein Opa und mein Bruder Polizisten waren. Die Taliban haben meinen Opa getötet. Als mein Bruder der Polizei davon erzählen wollte, drohte man ihm ebenfalls mit dem Tod. Deshalb entschied er sich, selbst Polizist zu werden. Die Taliban kamen daraufhin fast täglich zu meinen Eltern und fragten, wo ihr ältester Sohn sei, er solle gefälligst zurückkommen und nicht mehr bei der Polizei arbeiten. Sie schickten uns einen Drohbrief, in dem stand: Wenn euer Sohn nicht zurückkommt, werden wir alle in eurem Haus töten.

Meine Eltern haben den Brief viel zu spät vom Geistlichen im Dorf übersetzt bekommen und baten meinen Bruder umgehend, zurückzukommen. In der Nacht, als er schließlich zu uns kam, war es gerade ein Uhr und ich versteckte mich allein in einem Zimmer. Kurz danach kamen die Taliban ins Haus. Mein Bruder schaffte es zu entkommen, doch die Taliban drohten mir: „Wo ist dein Bruder? Wie hat er es geschafft zu entkommen? Wir werden euch alle töten!“ Neben uns wohnte ein Mullah, der alles beobachtete. Dem Taliban, der mich im Garten festhielt, sagte er, er solle mich in Ruhe lassen. Eine Nacht später verkaufte mein Vater unser Grundstück, um einen Schlepper zu bezahlen, mit dem ich später das Land verließ.

Vier Wochen vor meiner Flucht ging ich zur Hochzeitsfeier des Sohnes meiner Nachbarn. Meine Mutter hatte an dem Tag nicht gekocht und sagte mir, ich könne bei den Nachbarn essen. Ich freute mich, dort mit den Gästen zu tanzen und Musik zu hören. Nachdem alle gegessen hatten und ausgelassen feierten, kam es zu jenem verhängnisvollen Augenblick, der ausschlaggebend für meine Flucht war. Im Nebenzimmer speisten Anhänger der Taliban. Als sie fertig waren, kamen sie in den anderen Raum, wo sie mich sahen. Klein und wehrlos muss ich auf sie gewirkt haben. Ich hatte große Angst, zitterte am ganzen Körper und konnte keinen Ton von mir geben, um nach Hilfe zu rufen. Es waren drei oder vier Männer, die mich in ein anderes Zimmer zerrten, mich schlugen und danach sexuell missbrauchten. Ich war völlig hilflos und habe keinem davon erzählt, weil mir die Männer mit dem Tod drohten. Erst viel später habe ich zum ersten Mal über dieses traumatische Erlebnis gesprochen, als ich in Deutschland im Gericht befragt wurde.

Die Misshandlung und die Nacht, in der die Taliban meine Familie in unserem Haus überfielen, waren der Grund für meine Flucht nach Deutschland für den Preis des Landes meines Vaters.

Die Schlepper brachten mich

von Kundus nach Pakistan,

von dort nach Iran,

von Iran in die Türkei,

von Ankara bis nach Istanbul.

Bis wir das Wasser erreichten,

und ich mit 30 anderen

in einem Boot nach Griechenland fuhr.

Danach kann ich mich

an nichts mehr erinnern.

Das Entkommen vor den Taliban, die mich töten wollten, und die Freiheit in Deutschland waren der größte Vorteil, den die Flucht mit sich brachte. In Afghanistan ist alles unruhig und gefährlich. Wenn ich zurückkehre, droht mir der Tod. In Berlin lebte ich als erstes in einem Hostel in der Nähe des Alexanderplatzes. Jetzt wohne ich in einer WG in der Clayallee, wo alles um mich herum sehr grün ist.

Wenn man mich fragt, ob ich Afghanistan oder Deutschland lieber mag, ziehe ich Deutschland vor. Hier kann ich die Schule besuchen und mein Ziel ist es, eine Ausbildung zu finden. Derzeit besuche ich eine Schule für Gärtnerei und Recht und ich habe einen Praktikumsvertrag über vier Wochen als Krankenpfleger erhalten, worüber ich mich sehr freue. Außerdem spiele ich zweimal die Woche Fußball und am Wochenende gibt es immer ein Turnier.

Ich habe bisher

fünfmal die Schule gewechselt.

Oft werde ich gefragt,

warum ich eine Zeit lang im Wohnheim

stundenlang vor dem Fenster stand.

Jeder dachte,

ich würde springen.

Dabei habe ich bloß

die Natur beobachtet.

Ich wollte frei sein.

Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich Analphabet bin, und an die Zeit, die ich in der Heimat in den Bergen verbracht habe. Momentan befinde ich mich im Asylverfahren und hoffe sehr, dass ich hier meine Aufenthaltserlaubnis erhalte. Dafür ist es von Vorteil, einen berufsqualifizierenden Lehrgang abzuschließen und eine Ausbildung zu bekommen. Die Entscheidung vom Verwaltungsgericht steht leider noch nicht fest und ich mache mir Sorgen. Die Ungewissheit nagt an mir.

Eigentlich ist es mir egal, wen ich später heirate, sei es eine Syrerin oder eine Afghanin. Für mich ist es wichtig, dass wir uns gut verstehen und aus der Zukunft das Beste machen. Nach meinen Vorstellungen bin ich erst am Ziel, wenn das Asylverfahren abgeschlossen ist und ich die Sicherheit habe, hier leben zu können. In Afghanistan droht mir der Tod. Ich hoffe, das Gericht glaubt mir, und ich erhalte das Recht zu bleiben. Alles kann nur besser werden. An eine bessere Zukunft zu glauben, kann nicht verkehrt sein.