Sehr früh habe ich bemerkt,

dass ich erwachsen werden muss

und als ältester Sohn meiner Familie helfen.

Man hat vor meinen Augen

meinen Vater weggebracht.

Ich erfuhr von seinem Tod,

ohne ihn je wieder gesehen zu haben.

Mein Vater hatte sich einer politischen Gruppe angeschlossen, die gegen Taliban und Sunniten kämpfte und wurde deshalb verfolgt. Da meine Mutter krank wurde, entschloss ich mich, mit ihr und meinem kleinen Bruder nach Iran auszuwandern, um meine Mutter dort ärztlich behandeln zu lassen. Wir reisten in die Provinz Fars, in der Nähe von Shiras, wo ich sogar Arbeit fand als Koch in einer Steinwerkstatt. Tag und Nacht arbeitete ich, um ein wenig Geld zu verdienen.

Nach sieben Jahren forderte uns die Polizei auf, das Land zu verlassen, und wir begaben uns wieder nach Afghanistan. Dort kam es zu einer Verschlechterung unserer wirtschaftlichen Lage, es gab viele Streitereien und Feindschaften. 2007 verstarb meine Mutter dann an Krebs. An diesem Punkt verlor ich jegliche Hoffnung in das Land und beschloss, mit meinem kleinen Bruder nach Iran zurückzukehren. Dort arbeitete ich für eine Weile, bis mich Einsamkeit und Zukunftsängste dazu bewogen, mich auf den Weg nach Europa zu machen.

Mit etwas Erspartem und zusätzlich geliehenem Geld von meinem Onkel suchte ich einen Schlepper auf. Es begann ein neuer Lebensabschnitt, doch schwanden die Probleme nicht. Ich hatte mich entschieden zu gehen, und es gab keinen Weg zurück.

In Teheran lernte ich eine Frau kennen, die mir bei meiner Flucht half. Als erstes fuhren wir mit einem LKW bis an die Grenze der Türkei, wo wir aussteigen und zu Fuß weitermussten. Wir erreichten die türkische Grenzstadt Wan und von dort aus machte ich mich mit einer Gruppe auf den Weg nach Istanbul. Als wir die Stadt schließlich erreichten, trennte uns nur noch das Wasser von Griechenland. Man sagte uns: „Wenn ihr das Meer überquert, erreicht ihr Athen.“ Ich hatte noch nie zuvor ein so großes Gewässer gesehen und war sehr nervös. Mir war übel, ich hatte Kopfschmerzen, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.

Uns wurde gesagt, wir sollten uns

um null Uhr mit Gummibooten auf den Weg machen.

Keiner von uns war jemals mit einem Boot gefahren,

zunächst trieben wir einfach nur dahin.

Das Boot bewegte sich kaum, kreiste ziellos.

Schließlich gelang es uns, eine Richtung einzuschlagen.

Das Boot warf sich in die Wellen,

sie schlugen mir ins Gesicht, mir war speiübel.

Während der gesamten Überfahrt begleitete uns

die Angst vor dem Ertrinken.

Vor dem Tod.

Zweimal fuhren große Schiffe an uns vorbei, mit Hilfe einer Taschenlampe konnten wir auf uns aufmerksam machen. Zwölf Stunden hielten wir uns auf dem Wasser auf, bis wir gegen Mittag Griechenland erreichten. Endlich angekommen, waren wir völlig erschöpft, hungrig und ermüdet, wussten nicht, wo wir waren und wohin wir gehen sollten. Aus Angst vor dem Ertrinken hatten wir Kleidung und Essen ins Wasser geworfen. Auf einer Insel in der Nähe von Athen sind wir der Polizei aufgefallen, die ihre Hunde auf uns losließ. Wir rannten, so schnell wir konnten, doch am Ende wurden wir verhaftet. Man brachte uns in ein Lager für Flüchtlinge. Wir wurden nach unseren Ausweisen gefragt und sie nahmen unsere Fingerabdrücke. Zum ersten Mal wurdet mir die Wichtigkeit eines Ausweises bewusst. Ich hatte noch nie einen gebraucht, da ich nicht zur Schule gegangen war und mich illegal in Iran aufgehalten hatte. Ich wusste nicht einmal mein Alter. Als man mich fragte, antwortete ich, ich sei achtzehn.

Mit Gewalt wurde ich zur Abnahme meiner Fingerabdrücke gezwungen. Als meine Hand wehtat und ich sie ausstrecken wollte, berührte ich das Gesicht eines Polizisten, der in Rage geriet und mir drei Zähne ausschlug. Außerdem kam es später zu einer Verwechslung der Daten eines Mitgeflüchteten und den meinen. Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte lesen und schreiben können, denn wenn ich es gekonnt hätte, wäre es niemals zu dieser Verwechslung gekommen, die, wie sich noch zeigen sollte, Auswirkungen auf mein Leben in Europa haben würde.

Ohne jeglichen Plan blieben wir zwei Monate auf der Insel, bis wir während eines Erdbebens die Möglichkeit hatten, nach Athen zu flüchten. Wir hatten weder Geld noch Essen und schliefen nachts im Park oder unter einer Brücke. Auf der Suche nach Essen machten wir uns ständig auf den Weg zu unterschiedlichen Kirchen in der Stadt, wo man uns Essen gab, es war nie dieselbe Kirche.

Schließlich brachte uns ein Schlepper auf die Idee, mit einem Schiff nach Italien zu flüchten. Dabei sollten wir uns in einer großen eisernen Box neben dem Gepäck versteckt halten, es gab lediglich zwei Löcher zum Atmen. So wurden wir ins Schiff eingeschleust. Die Fahrt dauerte zwar nur zwei Stunden, aber wir harrten zehn Stunden in der Box aus, um endlich in der Dunkelheit unser Versteck zu verlassen. Während der gesamten Zeit waren wir still vor Angst und fürchteten, vom Zoll entdeckt zu werden.

Wir befreiten uns in der Nacht

ungesehen aus der Box,

begaben uns Richtung Hafen.

Ohne zu wissen, wo wir waren.

Wir waren sehr hungrig, nur dürftig gekleidet,

waren sehr dreckig.

Wir fühlten uns wie streunende Katzen,

auf der Suche nach Essen

und einem Platz zum Schlafen.


Wir erreichten eine Quelle, wo wir uns waschen konnten. Dort entdeckte uns ein Italiener, uns packte die Angst, wir versuchten zu entkommen. Doch der Mann rief uns mit freundlicher Stimme zu, wir sollten uns in seinem Auto verstecken und warten. In unserer Not waren wir gezwungen, ihm zu vertrauen. In seiner Wohnung trafen wir auf seine Frau und seine drei Töchter, die sehr erstaunt reagierten, als sie uns erschöpft, schmutzig, mit Schatten unter den Augen im Türrahmen erblickten. Wir hatten jedoch großes Glück, denn die Familie kümmerte sich um uns, gab uns Essen, saubere Kleidung, dazu je 50 Euro. Sie brachten uns zu einer Zugstation, wo die Fahrt weitergehen sollte.

Wir fuhren nach Rom und lebten dort in einem Park, wo sich viele Flüchtlinge aufhielten. Alle sehnten sich danach, in ein anderes Land zu flüchten, mit besseren Chancen auf ein normales Leben. Zwei Monate lebten wir in völliger Armut, schliefen nachts unter Brücken oder im Park, baten in Kirchen um Essen. Endlich erhielten wir ein Ticket, um nach Frankreich zu fahren. Wiederum in einem Park nahe Paris muss es gewesen sein, als mir in der Nacht meine wenigen Dinge gestohlen wurden, die ich noch besaß. Da entschloss ich mich, Frankreich zu verlassen und in ein sicheres Land zu gehen.

Mit dem Zug fuhr ich nach Köln und versuchte ein Ticket nach Norwegen zu bekommen. Ich lernte zwei schwedische Mädchen kennen und bat sie, mir zu helfen. Es gelang mir, mit den Mädchen nach Schweden zu reisen, ich lebte sogar eine Weile dort, versuchte eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Doch sie wurde abgelehnt, das Problem waren die Fingerabdrücke in Griechenland. Ich war gezwungen, Schweden zu verlassen. Ich reiste mit einer Fähre nach Kopenhagen, von dort mit einem Bus nach Oslo. Als ich aus dem Bus stieg, hielt mich die Polizei fest. Sie brachten mich zur Asylstelle, wo ich einen Antrag stellte. Ich war sehr müde und hatte einen langen Weg hinter mir, hatte aber die Hoffnung, ein neues Leben zu beginnen- Fünf Jahre lang lernte ich Norwegisch, arbeitete als Fassadenmaler, fand gute Freunde, führte ein gutes Leben. Ich schloss mich dem christlichen Glauben an, in dem ich Geborgenheit fand. Bis ich meinen Ablehnungsbescheid in Händen hielt – ich wurde nach Deutschland abgeschoben.

Als ich am Hauptbahnhof wartete, um das Land wieder Richtung Italien zu verlassen, überkam mich unendliche Traurigkeit und Verzweiflung. In meiner Trauer erblickte ich plötzlich zwei Landsleute, mit denen ich über die Flucht redete, über das Leben und wie es weitergehen sollte. Sie rieten mir, in Deutschland zu bleiben und aus Erschöpfung beschloss ich, ihrem Rat zu folgen.

2013 reichte ich den Asylantrag ein und lebte in einigen Heimen. Ich lerne Deutsch und warte bis heute auf eine Entscheidung. Ich war körperlich und seelisch ein Wrack, völlig durcheinander, mit den Nerven am Ende. Aus diesem Grund war ich gezwungen, das Heim mehrmals zu wechseln, begab mich schließlich in psychologische Behandlung.

Nachts verfolgten mich Albträume,

raubten mir den Schlaf.

Am Tag fehlte mir die Kraft,

mich auf die wichtigen Sachen

im Leben zu konzentrieren.

Zwei Monate befand ich mich in Therapie, ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass mir geholfen wurde. Man hörte mir zu, es gab drei Mal am Tag Essen und es gab viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Dort konnte ich nach all den Strapazen endlich wieder zu Kräften kommen, bis ich mich im Heim erneut in meinen bedrückenden Gedanken verlor. Werde ich eines Tages in meinen eigenen vier Wänden leben? Werde ich irgendwann Arbeit finden und eine Familie gründen können, nicht mehr allein sein?

Meine Geschichte glaubt man mir nicht,

Es ist ungewiss, wie es weitergeht.

Ich bereue es sehr, Analphabet gewesen zu sein.

Wenn ich es doch rückgängig machen könnte.

In Afghanistan war ich sehr arm, es fehlte mir die nötige Erfahrung, um das Leben zu meistern. In Europa habe ich angefangen, lesen und schreiben zu lernen, was mir ein neues Leben ermöglicht hat. Ich konnte dadurch den Alltag besser bewältigen und durch Reisen in unterschiedliche Länder neue Lebenserfahrungen sammeln. Ich lernte neue Menschen kennen, lebte in Freiheit und musste nicht mehr um mein Leben fürchten. Doch – wie viel weiter ich sein könnte, wäre ich anfangs kein Analphabet gewesen! Es zermürbt mich.

Ich finde, der größte Fehler in Afghanistan ist die fanatische Auslegung der Religion. Das war einer der Gründe, warum ich mich dem Christentum anschloss. Meine Familie in Afghanistan kann das nicht gut nachvollziehen und es gibt große Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, was den Glauben angeht. Insbesondere mit meinen Cousins, die im Iran leben.

Ich habe noch Kontakt zu einem Mädchen in Afghanistan, aber es ist sehr schwierig, sie hierher zu bringen. Wir haben letzte Woche telefoniert. Es ist so viel Zeit vergangen und ich kann mir nicht vorstellen, wie es mit uns weitergehen soll, ich warte ja selbst noch auf meine Erlaubnis, hier zu bleiben. Alles erscheint ungewiss; ein Afghane, den ich kannte, wurde bereits abgeschoben. Das Wichtigste für mich im Leben ist es, keine Angst vor dem morgigen Tag mehr haben zu müssen. Die Probleme, die mich in Afghanistan erwarten würden, mögen unvorstellbar schrecklich sein.

Wie schön ist es, Menschen kennenzulernen,

mit denen man sich versteht,

in meinem Leben gab es nicht so viele.

Alles wäre besser, wenn ich bleiben dürfte.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Die Menschen in Deutschland zeigen viel Verständnis dafür, wie schwierig es für jemanden wie mich ist, sich hier einzufinden, und ich habe niemals Druck gespürt. Dafür danke ich den Deutschen. Ich habe wenig Kontakt zu meiner Familie und ich vermisse meine Mutter. Vor allem jedoch sehne ich mich nach Sicherheit.