Sei gegrüßt, Iran!
Verzeih mir,
sollte ich es sein, der einem Iraner den Platz in der Gesellschaft
streitig machte.
Verzeih mir,
wenn ich euren Sauerstoff geatmet habe.
Verzeih mir,
sollte ich euren Boden abgenutzt haben.
Verzeih mir,
wenn ich eure Tinte und euren Mörtel einsetzte
für meine Bildung.
Verzeih mir,
wenn ich euer Wasser trank und eure Nahrung aß
und Eure Leute hungrig blieben.
Verzeih mir,
ich bin ein afghanischer Flüchtling,
der wegen des Krieges zu einem Fremden bei euch wurde.
Der sich dort in der Umarmung der Mühsal begab.
Iran, wenn du mir Schmerzen bereitet hast,
so verzeih ich dir,
Iran, wenn du mich lächerlich gemacht hast
für mein Afghanisch-Sein,
ich verzeihe dir.
Als geflüchteter Afghane ist es nicht einfach in Iran. Meine Erinnerungen sind voller Demütigungen und Schwierigkeiten. Ob in der Schule oder zuhause, der Hass gegenüber afghanischen Flüchtlingen ist stark. In meiner Schule beschwerten sie sich immer wieder über die Ausländer: Also über uns.
Noch heute trifft es mich, dass ich bei keinem der sportlichen Fußballwettkämpfe in der Schule oder im Bezirk mitmachen durfte. Ich durfte nicht teilnehmen, weil ich Afghane bin. Ein Beschluss der Stadtverwaltung an die Schule ordnete das per Brief an. Diese Vorschrift untersagte mir und den anderen Ausländern, sich an den Wettkämpfen zu beteiligen. Meine Brüder und meine Schwester sind alle in die Schule gegangen, aber sie haben trotzdem keine berufliche Perspektive. Afghanen bleiben Tagelöhner. Mein älterer Bruder wollte unbedingt, dass ich in die Schule gehe. Aber ich wusste, dass mir keine der Türen, die er mir versprach, im Iran offen standen. Weil ich ein afghanischer Flüchtling bin.
Das war aber nicht der wichtigste Grund, warum mich meine Eltern fort nach Deutschland schickten. Sie fanden heraus, dass „Anwerber“ begannen, für den Dschihad in Syrien zu werben. Mein Vater bekam Angst um mich. Die „Anwerber“ gingen gezielt auf junge afghanische Flüchtlinge zu. Als einer meiner besten Freunde plötzlich verschwand, nach Syrien in den Dschihad, war mein Vater alarmiert. Immer freitags gingen wir in die Koranschule. Mein Freund ging auch in diese Koranschule. Er ist ein Jahr älter als ich. Eines Freitags – nach dem Koranlesen – kam ein unbekannter Mann zu uns in die Gruppe. Dieser Mann begann, leidenschaftliche Vorträge über den Dschihad zu halten. Er wollte die ganze Gruppe überzeugen, in den Kampf nach Syrien aufzubrechen. Bei meinem Freund schien dieser „Anwerber“ eine Art glühende Sehnsucht zu entfachen. Mein Freund sprach von nichts anderem mehr, als in diesen Kampf zu ziehen. Es heißt, die Afghanen würden von den Iranern gezwungen, in den Dschihad zu ziehen. Ich sah aber, dass in meinem Freund tatsächlich eine tiefgreifende Passion für diese Reise entstanden war.
Dennoch, richtig ernst genommen hatte ich seine Pläne erstmal nicht. Ich hielt es für Gerede. Doch ich erzählte meinem Vater zwei- oder dreimal, dass mein Freund davon sprach, nach Syrien zu gehen. Mein Vater reagierte äußerst wütend. Er sagte, wir kämen doch schon aus einem Krieg in Afghanistan. Er hatte seine beiden Brüder verloren und er drohte mir mit den Worten, wir gingen in keinen weiteren Krieg. Vater verbot mir, mich weiter mit meinem Freund zu treffen. Als ich es dennoch tat und es herauskam, schlug er mich. Als ich schließlich hörte, dass mein Freund tatsächlich nach Syrien aufgebrochen sei, war ich entsetzt. Auch kannte meine Familie seine gut, und so erfuhr sie davon. Einen Tag nachdem mein Freund verschwunden war, nahm mich mein Vater aus der Koranschule.
Er verbot mir fortan, aus dem Haus zu gehen. Mir wurde lediglich erlaubt, im Supermarkt einzukaufen. Ich stritt mich heftig mit meinen Eltern; ich argumentierte gegen ihre Verbote. Ich wollte unbedingt weiter in die Schule gehen und meine Freunde treffen. Sie ließen mich nicht. Dieser Zustand dauerte etwa eine Woche. Von meinem Freund habe ich übrigens nie wieder etwas gehört. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt. Ich weiß aber, dass schon über 1.000 junge afghanische Flüchtlinge aus dem Iran im Dschihad in Syrien gefallen sind.
Eines Nachts sagte mein Vater dann plötzlich: „Mahdi, mein Sohn, du musst morgen früh den Iran verlassen.” Mir ging es sehr schlecht in dieser Nacht. Ich wollte nicht weg von meinen Eltern. Ich wollte nicht ins Ausland gehen. Meine Eltern haben mich aber lieber auf diese riskante Reise geschickt, als mich weiterhin den Gefahren im Iran auszusetzen. Lieber schickten sie mich in irgendein Land, wo wir überhaupt niemanden kannten.
An diesem Abend, in diesem Moment des Abschieds von meinen Eltern, erlebte ich die verzweifeltsten, unglücklichsten und tränenreichsten Momente meines bisherigen Lebens. Als ich hörte, ich solle nun den Iran verlassen, krampfte sich alles in meinem Inneren zusammen. Mir blieben nur zwölf Stunden. Drei Stunden davon schlief ich. Die verbleibenden neun Stunden versuchte ich mit aller Macht, meine Eltern umzustimmen, ihren Entschluss irgendwie rückgängig zu machen. Ich wollte nicht weg.
Ich bedaure, weder meine Freunde, noch den Sand meiner Straße, noch den Duft meines Viertels gebührend verabschiedet zu haben. Wenn ich gewusst hätte, wie lange ich in Deutschland bleiben würde, und wie sehr ich meine Familie und meine Heimat vermissen würde – ich hätte meine Mutter stundenlang in den Armen gehalten. Ich hätte die zerfurchten und abgearbeiteten Hände meines Vaters so oft geküsst, bis sie ganz nass gewesen wären. Es ist meine größte Sehnsucht, sie wiederzusehen.
Jede Nacht denke ich an sie. Jede Nacht stelle ich mir das Wiedersehen mit ihnen vor.
Am nächsten Morgen brachte mich mein Vater zu einem Auto. Mit dem Schleuser fuhr ich von Mahalam nach Maidane Azadi in Teheran. Dort blieb ich etwa zwei Stunden, bis ein anderes Auto kam. In diesem Auto fuhren wir in die Stadt Orumia, die sich an der Grenze zur Türkei befindet, und von den zwölf Stunden in diesem Wagen verbrachte ich etwa zehn zusammengekauert im Fußraum, um nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Hätten sie mich erwischt, so hätten sie mich nach Afghanistan deportiert. Die Polizei im Iran verhält sich grundsätzlich rücksichtslos gegenüber Afghanen. Wir haben kaum Rechte.
Die nächste Etappe liefen wir zu Fuß. Wir waren in den Bergen und der steile Aufstieg fiel mir schwer. Es war kalt. Eine Schneedecke überzog das Land. Wir gingen etwa zwölf Stunden und ich befand mich in einem erbärmlichen Zustand. Ich stolperte und fiel oft hin. Ich war so erschöpft, dass ich kaum sehen konnte, wohin ich meinen nächsten Schritt setzen sollte. In der Nähe der Grenze zur Türkei setzte ich mich hin und sagte: „Geht weiter, ich kann nicht mehr. Ich bleibe.“ Jedes Mal, wenn ich mich hinsetzte, fielen meine Augen zu. Ich konnte einfach nichts dagegen machen. Ich wollte nur sitzen bleiben. Einfach nur sitzen bleiben.
Ich dachte an meine Eltern und wie elend es ihnen wohl ergehen wird, wenn ich nun ausgerechnet hier stürbe. Etwas später sah ich eine Frau, die auf einem Pferd weiterreisen durfte. Auch ich wollte auf ein Pferd, aber es gab keines mehr. Mittlerweile war es schrecklich heiß. Mir entfuhr ein Schrei. Mein ganzes Ich war wie in Trance. Ich war so müde, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Aus Verzweiflung schossen mir die Tränen in die Augen. Ich fühlte mich todkrank. Und wütend. Ich sehnte mich nach diesem Pferd, ich wollte auf ihm sitzen. Irgendwann entglitt mir mein Bewusstsein; irgendwann weckte man mich. Ich sackte aber wieder weg. Immer wieder rüttelte jemand an mir. Alles nützte nichts, ich schlief wieder ein.
Als ich allerdings das nächste Mal erwachte, befand ich mich tatsächlich auf dem Rücken eines Pferdes. Ich sagte zu mir: „Elend dem Teufel,“ damit das Böse endgültig weiche.
Wir fuhren durch die Türkei, in eine Stadt, die auf der Griechenland gegenüberliegenden Seite liegt. Dort blieben wir und warteten auf das lang ersehnte Boot. Das Boot legte an und die Schlepper brachten uns an Bord. Auf unserer Fahrt sahen wir zwei oder drei weitere Schiffe mit Flüchtlingen. Die Nacht war schon hereingebrochen, wir konnten kaum noch etwas erkennen, doch wir hörten die Schreie. Sie riefen, sie schrien. Sie riefen mehrmals: „Wir sinken! Wir gehen unter!“
Ihr Boot ging tatsächlich unter und ihre Schreie verhallten in der Dunkelheit. Mein Körper zitterte vor Todesangst. Um meine Gedanken zu beruhigen, wiederholte ich eine Sure aus dem Koran: „Oh Gott, helfe uns, rette uns.” Und ich wiederholte die ganze Zeit den Namen Mohammeds. Die Luft war so kalt. Unser Boot schwankte enorm in der Nacht, wir waren vollkommen durchnässt. Und diese Kälte! Ich hatte solche Angst, mein Körper hörte nicht mehr auf zu zittern. Sechs Stunden waren wir auf See. Als wir die Grenze Griechenlands erreichten, befanden sich Retter an der Küste. Sie zogen uns aus dem Wasser.
Es begann eine Odyssee von einem Flüchtlingscamp zum anderen, aber ich habe es schließlich nach Deutschland geschafft. In meiner Wohngemeinschaft lebe ich nun ein Leben so fern von meiner Familie. Mein neuer Alltag ist ein ganz anderer als der im Iran. Mein neues Leben hier ist mir bis heute fremd, auch zwei Jahre noch nach meiner Ankunft. Ich organisiere komplett selbstständig meine Tage und die Aktivitäten, die in ihrem Verlauf stattfinden. Habe ich Probleme oder ein Anliegen, so übernehme ich selbst die Verantwortung dafür, suche eine Lösung. Mein Vormund ist eine sehr nette Frau, und sie und meine Betreuer helfen mir dabei, mit Deutschland und seinen Bewohnern vertrauter zu werden. Sie helfen mir dabei, selbstständig zu werden. Bietet sich mir eine Chance, Neues zu erlernen, so fördern sie mich mit all ihrer Tatkraft und ihrem guten Willen.
Aber all diese Erlebnisse in Deutschland, die ich bisher gesammelt habe, lindern nicht die Sehnsucht nach meiner Familie. All die Erlebnisse in Deutschland würde ich eintauschen für eine einzige Stunde mit meiner Familie. Den Abend des Fastenbrechens würde ich auch viel lieber in Iran verbringen. Ich liebe Silvester und Muharram* im Iran. Ich liebe es, durch die Straßen und Gassen Irans zu spazieren. Und ich liebe es, das Lächeln und das Lachen meiner Mutter, meines Vaters und meines Bruders zu erleben. Noch immer sehne ich mich nach meinen guten Freunden. Ich sehne mich nach ihren vertrauten Stimmen.
Einmal wieder in den Genuss der Speisen meiner Mutter zu kommen – ich würde sie nicht mit den tausenden Restaurants und kulinarischen Möglichkeiten in Deutschland tauschen. Einmal auf den sandigen Böden des Iran Fußballspielen ziehe ich tausend Mal dem Spielen auf den gepflegten, deutschen Rasen vor. Einmal mit meiner Familie in die Nachbarstadt zu fahren, wäre mir tausende Male lieber, als allein nach Paris oder New York zu reisen.
Ich bin wie eine Schlange geworden, die ihre Haut abwirft und die alte Haut dann doch vermisst. Es ist nämlich so, dass mir alles in Deutschland gegeben ist, und doch fühle ich mich, als ob ich nichts habe. Dafür, dass ich hier so viel erlangt habe, habe ich auch vieles aus dem Iran verloren. Würde ich mich aber nun im Iran befinden, so sehnte ich mich mit Leib und Seele danach, wieder in Deutschland zu sein.
* Muharram = erster Monat im Kalender des Islam. Aleviten & Schiiten gedenken im Monat Muharram des Todes von Imam Al-Husain (Schlacht von Kerbela)