Ich hatte bereits ein Jahr lang die Willkommensklasse besucht, hatte mein Bestes gegeben, hatte fleißig Deutsch gelernt, als er sich plötzlich in mir einnistete. Ein Kummer, der mich nicht mehr loslassen wollte. Eine tiefe Sorge, dass ich meine Eltern nie wiedersehen würde. Das Gefühl, dass ich das nicht aushalten könnte.

Ich verlor die Kontrolle über mein Handeln. Plötzlich ging ich viel zu spät zur Schule. An vielen Schultagen blieb ich ganz zu Hause. Ich musste mir so einiges anhören von den Personen aus meinem Umfeld – von meiner damaligen Freundin, meinem Vormund, von Betreuerinnen und Lehrkräften. Sogar die Anrufe meiner Eltern konnte ich nicht mehr entgegennehmen. Ich brach den Kontakt zu meinen Freunden im Iran ab. Nur alle zwei Monate meldete ich mich noch zuhause. Dann musste ich mir anhören, wie ich mich verhalten sollte. Was für eine Person ich sein sollte. Was ich zu tun hatte.

Meine Freundin, meine Betreuerinnen, die Ämter sagten, dass ich zur Psychotherapie gehen müsste. Ich war dagegen. Ich ging nie hin.

Dann, endlich, nach sechs langen Jahren, bekam ich die Gelegenheit, zu meiner Familie in den Iran zu reisen. Ich bin gebürtiger Afghane, ohne Verwandte in diesem Land, deshalb wurde die Reise dorthin erlaubt. Am Flughafen in Teheran empfingen mich meine Mutter, meine Schwester und mein älterer Bruder. Um 5 Uhr morgens erreichten wir unsere Wohnung.

Aber alles Vertraute, alles, wonach ich mich so sehr gesehnt hatte, war plötzlich ungewohnt. Nachdem wir uns begrüßt hatten, saß ich stumm in der Ecke. Ich war ein Fremder geworden in meiner eigenen Familie. Mein kleiner Bruder, der einen halben Meter groß war, als ich ging, war nun einige Zentimeter größer als ich. Sogar er fühlte sich fremd in meiner Gegenwart.

Als ich mich mit 15 Jahren allein auf den Weg nach Deutschland machte, konnte ich an nichts anderes denken als an meine Mutter und daran, dass ich vergessen hatte, sie zum Abschied noch einmal zu umarmen. Es schien mir, als hätte ich meine Seele zurückgelassen.

Nun war ich bei ihnen, meiner Mutter, meinem Vater, meinem Bruder, aber ich wollte nur allein sein und weinen. Meine Seele blieb verloren.