Mittwoch, der 14. September 2022. Ich erwache früher als gewohnt und spüre eine stechende Kälte. Dabei war es in den letzten Tagen noch recht warm. Ich schaue zum Fenster hinaus: Der ganze Weg ist mit Laub bestreut, mit dem leichte Böen spielen. Es dämmert schon. Bald wird die Sonne aufgehen. Es ist fünf Uhr morgens in Berlin, nahe der Haltestelle Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik der U8. In einem Wäldchen oder Park steht das Flüchtlingsheim, in dem ich die kommenden Tage verbringen soll.

Ich drehe meinen Kopf nach links und rechts, damit der Nackenschmerz nachlässt, den dieses Kissen verursacht, das eher einem Marmorblock ähnelt, und dieses Bett mit seinem stählernen Matratzenkern, das sich tagsüber zusammengeklappt in die Ecke stellen lässt.

Fünf Tage bin ich jetzt schon hier und habe nicht eine Nacht fest geschlafen. Das ist freilich besser, als sitzend auf einem rostigen Schiffsdeck zu schlafen, zumal auf hoher See, unter ständigem Bangen und bösen Ahnungen.

Und doch ertappe ich mich manchmal dabei, mich nach diesen Tagen zurückzusehnen. Trotz ihrer Härten hatten sie auch ihre schönen Seiten, und seien es auch nur die, die ich mir ausdenke, um in meine Phantasiewelten zu entfliehen.

Mein Name ist Ahmad und hier will ich euch an besonderen Momenten meines Lebens teilhaben lassen.

Mein Name ist Ahmad

Ich muss lachen, wenn ich zurückdenke, wie diese Reise begann, als mein Bruder meinte, ich solle die Sachen packen, da es nun auf nach Deutschland ginge. Es kam mir vor wie ein absurder Scherz. Wieso will der mich nach Deutschland bringen? Mich, der ich mich hier in der Türkei eingelebt hatte? Hier war ich aufgewachsen, hier hatte ich meine ganze Kindheit verbracht. Darum war mir niemals eingefallen, von hier wegzuziehen. Doch meinem Bruder war es ernst damit und er teilte mir mit, wir würden über eine Woche auf dem Meer reisen. Wie ernst er es meinte, begriff ich erst, als ich die Vorräte sah, die er schon herangeschafft hatte: Dosen mit Mortadella, dicken Bohnen und Thunfisch sowie allem Möglichen, was nicht so leicht verdirbt.

Meine Mutter machte sich sogleich daran, Kleidung für uns zurechtzulegen, während ich meine kleine Bibliothek aufsuchte, um mir ein Buch auszusuchen, das mir auf meiner Reise Gesellschaft leisten sollte. Ich ging die Romane einzeln durch. Er sollte mehr als 400 Seiten dick sein, dick genug für die ganze Reise, denn ich wusste, wir würden tagelang ohne Internet sein.

Meine Wahl fiel auf „Mein Name ist Ahmad“ von Ayman Otoom. Ich weiß wirklich nicht, warum es gerade der sein sollte! Kann sein, weil mein Name im Titel vorkommt, oder weil er einen Umfang von über 500 Seiten hat. Dann ging ich los, um möglichst viele Instantkaffee-Tütchen zu kaufen.

Für den nächsten Tag waren wir mit circa 50 weiteren Leuten verabredet, um gemeinsam zu unserem Schiff zu gehen.

Dunkelheit

Mersin, Sonntag, der 28.08.2022, Mitternacht.

Wir erwarteten die Ankunft des Schiffes, das uns laut Zusicherung der Schleuser nach Italien bringen sollte. Die Gegend war abgelegen und menschenleer. Schließlich ging das Schiff nahe dem steinernen Kais vor Anker. Eigentlich war es nur ein Boot und zu klein für uns alle. Es war stockfinster. Das Einschiffen so vieler Leute brachte das Boot zum Wanken, bis alle endlich Platz genommen hatten. Wir saßen ziemlich unbequem und recht dicht beieinander.

Dann legten wir ab, im türkischen Mersin, um irgendwo in Italien ein unbestimmtes Festland zu erreichen.

Die Abenteuer eines kühnen Seefahrers

In der ersten Nacht konnte ich noch die Lichter an der Küste von Mersin erkennen. In dieser Stadt hatte ich über acht Jahre gelebt. Doch obwohl meine Freunde dort lebten, meine Kindheit, ja mein Leben mit ihr verbunden war, war ich froh, sie nun hinter mir zu lassen. Ich spürte nichts von dieser Trauer, die einen vermeintlich befällt, wenn man seine Stadt oder Heimat verlässt. Vielleicht, weil ich ihre Straßen, Viertel, Schulen und Bewohner im Grunde hasste. Vielleicht mochte ich sie nicht mehr, weil ich in der 10. Klasse sitzengeblieben war, und das war gerade einen Monat her. Doch im Grunde war ich zurecht durchgefallen, meine Schulbücher waren praktisch unbenutzt. Ich hatte mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, auf ihnen herumzukritzeln. Ich hatte sie einfach zuhause gelassen und meistens die Schule geschwänzt. In diesem Jahr war ich komplett verloren und zu nichts zu bewegen.

Beim ersten Tagesanbruch holte ich meinen Roman heraus, um meinen Vorsatz für die Reise umzusetzen: in aller Ruhe, bei einer Tasse Kaffee, mit einem herrlichen Blick auf die See, für mich allein, ohne Ablenkung durchs Internet einen Roman zu lesen. Die Realität richtet sich freilich nicht nach meinen Launen: Das ständige Brüllen des Schiffsmotors, dazu die Kinder, die mit ihm um die Wette plärrten, hielten mich davon ab, sooft ich es auch versuchte.

Alle beteten zu Gott, dass wir heil nach Italien gelangen und das Boot nicht untergehen möge, über 200 Kilometer von der nächsten griechischen Insel entfernt. So weit kann man natürlich nicht schwimmen. Die Zeit schien sich dahinzuschleppen. Ich hätte gerne irgendjemanden in meinem Alter kennengelernt. Doch es gab nur kleine Kinder in Begleitung ihrer Verwandten. Alle anderen waren mindestens fünf Jahre älter als ich. Ich entschied mich dafür, mich den Großen anzuschließen, um so groß wie sie zu erscheinen – auch, wenn es mir keinen Spaß machte, mit ihnen zusammen zu hocken. So wurde ich Mitglied einer Fünfergruppe, die ständig zusammensaß. Wir hätten gewünscht, jemand hätte Spielkarten mitgebracht. So schlugen wir unsere Zeit damit tot, einander unsere Lebensgeschichten zu erzählen.

Dann geschah etwas, das alle in Aufregung versetzte: Der Schiffsmotor geriet in Brand, als wäre das seine Antwort auf meine Flüche wegen seines Lärms, sodass er jetzt Funken sprühend in Brand geriet. Die Verantwortlichen eilten herbei, um ihn zu löschen. Doch wir bekamen es mit der Angst zu tun. Die Reparatur zog sich über Stunden hin. Es war unsere fünfte Nacht auf dem Meer, das nun so düster vor uns lag wie die Nächte davor, nachdem die Sonne untergegangen war. Und ich hatte nur noch ein Kaffeetütchen. Das war für den äußersten Notfall bestimmt. Doch ich beschloss, mir jetzt einen Kaffee zu machen – dieser letzte Kaffee musste schon sein, wenn ich schon sterben sollte!

Nachdem ich ihn kalt angerührt hatte, stellte ich fest, dass meine Powerbank leer war. Mein Handy war auch nur noch zu zehn Prozent geladen. Ich holte meine Ohrstöpsel aus der Tasche, steckte sie mir in die Ohren und suchte ein Lied von Assala Nasry, das auf meinem Handy abgespeichert war. Ich legte die Tasche wie ein Kissen zwischen meinen Kopf und die hölzerne Reling, verfolgte die Sterne über mir, ließ meine Beine nach draußen hängen, sodass sie fast das Wasser erreichten, während Assala ihre Stimme erklingen ließ:

„Das ist Damaskus .... und das ist der Kelch und der Wein
Ich liebe .... und manch eine Liebe ist wie ein Stich ins Fleisch
Ich bin aus Damaskus .... und wenn ihr mich aufschneidet
fließen Äpfel und Trauben hervor
Hier sind meine Wurzeln ... mein Herz ... meine Sprache
Wie also soll ich's erklären? Gibt es im Verliebtsein Erklärungen?“

Da schwappte eine kleine Welle über meine Füße. Ich spürte das kühle Nass, nippte ein kleines bisschen an meinem Kaffee, um ihn so lange wie möglich auszukosten, begann mir die Sterne anzuschauen: Da gab es große und kleine, strahlende und matte. Und Assala fuhr mit ihrer liebevollen Stimme fort:

„Ich lud mir meine Gedichte auf den Rücken, doch sie ermüdeten mich.
Doch was sollen das für Gedichte sein, die zur Ruhe kommen?!
Unsere Liebe ist aus Damaskus, und es gibt keinen Vergleich, das werde ich nie vergessen.“

Schließlich nickte ich weg und hörte das Lied in Dauerschleife.

Weggefährten

Als ich aufwachte, hörte ich ein seltsames Geräusch, das vom Meer kommen musste. Die Dunkelheit war schon dem Tag gewichen. Doch ich konnte nicht sehen, was diesen Laut hervorrief. Ich hielt nach allem Ausschau, mochte es auch noch so unscheinbar und entfernt sein, untersuchte selbst die bräunlichen Quallen, denen ich hier zum ersten Mal im Leben begegnete. Minuten später, noch immer hörte ich dieses Geräusch, sah ich in der Ferne etwas springen, dann wieder und wieder. Ein Wal, dachte ich erst. Doch dafür war es zu klein.

Es kam etwas näher, doch nur sehr allmählich. Eine ganze Stunde konnte ich es hören, versuchte es zu sehen und fand es nicht. Doch irgendwann war es so nahe am Boot, dass ich erkennen konnte: Es war ein Delphin. Und er war nicht allein gekommen, sondern in Begleitung zweier weiterer, die sich ein bisschen weiter abseits hielten. Mir schien, die beiden würden das Boot in einem größeren Abstand umkreisen, während er dem Kurs des Bootes folgte, dann langsamer wurde, um mit dem Boot mitzuschwimmen. Er blickte mich an. Ich spürte, wie er lachte, als er seine berückende Eleganz zur Schau stellte. Als er noch näher kam, ging mir auf, wie schön er war. Noch nie hatte ich ein solches Glück verspürt. Ich schaute ihm in die Augen und fühlte plötzlich, er hat eine Botschaft an mich: „Was hat dich hierher gebracht? Suchst du eine neue Heimat? Oder kommst du nur als Tourist? Warum sitzt du da so traurig und allein? Oder bleibst du lieber für dich, so wie ich, anstatt dich mit den anderen zu vergnügen?“

Ich hätte ihm sagen wollen, wie gerne ich dort leben würde, wo ich zur Welt kam, denn seit ich fort war, fühlte ich mich von allem isoliert. Lass es dir gut gehen in deiner Heimat, mein Freund, denn das Meer ist eine große und schöne Heimat, die du nicht mit Verbrechern teilen musst. Doch ich wusste, er verstand meine Sprache nicht, so begnügten wir uns damit, einander anzublicken, bis er sich nach einigen Minuten zu seinen Gefährten gesellte und mit ihnen in der Ferne verschwand.

Trinkwasser

Und als hätten die Delphine uns frohe Botschaft gebracht, kam wenige Stunden, nachdem sie fort waren, die italienische Küstenwache. Da waren wir etwa drei Kilometer vom nächsten italienischen Hafen entfernt. Sie verteilten an alle Wasserflaschen: Seit wir an Bord gegangen waren, hatten wir uns nicht mehr so richtig satt trinken können und mit Einbruch der siebten Nacht war unser Trinkwasservorrat fast aufgebraucht.

Schließlich erreichten wir das italienische Festland. Von da an ging alles sehr schnell. Nur zwei Tage blieben wir in Italien, von wo es in Richtung Schweiz ging, wo wir uns auch nur zwei Tage aufhielten, um nach Deutschland zu gelangen.

Meine Freunde beneiden mich darum, Italien besucht zu haben. Wie könnte es anders sein? Schließlich gibt es auf Erden kein schöneres Land! Doch ihnen ist nicht klar, dass diese Tage zu den schlimmsten meines Lebens gehörten. Ich schlief ständig in Grünanlagen und an einem Tag musste ich bei 3°C im Regen schlafen. Das waren nicht die besten Bedingungen, um das schönste Land Europas zu entdecken.

Berlin

Am 8. September um neun Uhr morgens kam unser Zug im Berliner Hauptbahnhof an. Wir stiegen aus und ein Freund meines Bruders empfing uns mit zwei Bechern sehr heißen Kaffees. Etwas kälter wäre er mir lieber gewesen, doch er erfüllte seinen Zweck. Wir fuhren nach Charlottenburg, um in der Wohnung des Freundes ein wenig zur Ruhe zu kommen. Von der S7 aus, deren Namen ich damals freilich nicht kannte, betrachtete ich die Gebäude und Parks, bis wir in der Nähe seiner Wohnung ausstiegen. Dann gingen wir zusammen zu ihm.

Tante Umm ʿAbd ar-Raḥman hatte für uns Muluchiya mit Reis gekocht. Es hat unbeschreiblich gut geschmeckt. Nach dem Essen war ich todmüde und schlief bis Mitternacht durch. War es ein Mittagsschlaf oder eher ein Koma? Es war auf jeden Fall eine wahre Erholung.

Am nächsten Tag gingen wir zum Einwanderungsamt, um uns registrieren zu lassen. Wir bekamen ein kleines Zimmer, aber waren zufrieden damit. Von nun an begann ein neues Leben, das in keiner Beziehung zum alten stand.

Berlin wird die Stadt sein, in der ich fortan lebe. Daher muss ich mich hier eingewöhnen, mir neue Freunde und ein neues Leben suchen.

Es ist der 29. März 2024.

Ich schreibe diese Zeilen und bin noch immer auf der Suche.