Wer hätte gedacht, dass ich jemals in Berlin leben würde.
Basra
Seit die Corona-Pandemie in Basra ausbrach, schien das Leben zu sterben – mein eigenes hatte ja ohnehin keinen Sinn. Ein Jahr lang war es verboten, das Haus zu verlassen und sich mit Freunden zu treffen. Ich war gut in der Schule, doch für ein Ingenieurstudium reichte mein Durchschnitt nicht. An einer Privatuniversität oder im Ausland wollte ich nicht studieren, denn das hätte meine Eltern finanziell zu stark belastet. Die Situation im Irak wurde immer schwieriger und die Zukunft für Leute wie mich war ziemlich düster. Da keimte in mir der Gedanke auf, das Land zu verlassen und nach Europa zu gehen. Denn erstens wäre ich hier gezwungen, in jeder Hinsicht für mich selbst zu sorgen. Zweitens würde ein Ort mit mehr Chancen meine Erfolgsaussichten erhöhen. Der Gedanke begann, sich in eine fixe Idee zu verwandeln, bis der Moment kommen sollte, wo ich ihn verwirklichen konnte.
Bagdad
Es war der 4. August 2021, ein sehr kurzer Abschied von meiner Mutter und meinen Verwandten, dann brachen ich, mein Bruder und mein Cousin von Basra nach Bagdad auf, von wo aus es mit dem Flugzeug nach Minsk ging. Ich habe circa drei Stunden aus dem Fenster geschaut und den Himmel betrachtet. Der Flug dauerte insgesamt viereinhalb Stunden. Wir landeten in Minsk, doch auf dem dortigen Flughafen mussten wir über acht Stunden warten. Schließlich wurden unsere Pässe abgestempelt und wir durften das Gelände verlassen. Mein erster Eindruck war, dass Minsk eine schöne Stadt ist. Das Wetter war mild, ich war gut gelaunt und hatte das Gefühl, uns steht etwas Schönes bevor.
Minsk
Vor dem Flughafen wartete ein Mann auf uns, der uns alle ins Hotel fahren sollte. Wir gönnten uns nur einen Tag Ruhe. Dann beschlossen wir, zu versuchen, nach Litauen zu kommen, denn nach dem, was wir gehört hatten, waren die Grenzen nach Litauen offen und leicht zu überqueren. Belarus war für uns eine Durchgangsstation, unser Ziel war die EU. Wir waren eine Gruppe von 40 Irakern, die sich, auf mehrere Autos verteilt, in Richtung Grenze aufmachten. Als wir ankamen, war es sehr dunkel, wir konnten kaum etwas sehen. Wir gingen in den Wald und liefen etwa dreieinhalb Stunden, bis wir die Grenze erreichten. Sobald wir dort waren, rannten wir als geschlossene Gruppe los, um in den litauischen Teil des Waldes zu kommen. Doch es dauerte nicht lange, bis der bewaffnete litauische Grenzschutz auftauchte, uns den Weg abschnitt und zur Umkehr zwang. Es war kalt und regnete heftig.
Grenzen
Mehr als fünf Stunden redeten wir auf die litauischen Grenzschützer ein, damit sie uns erlaubten, die Grenze zu passieren. Doch ohne Erfolg. Nach diesen fünf Stunden kam der belarussische Grenzschutz und brachte uns mit Bussen in ein anderes Stück Wald. Einen ganzen Tag lang durften wir uns hier nicht vom Fleck bewegen. Wir hatten die ganze Zeit nichts zu essen und zu trinken. Dann fuhren wir auf eine Lichtung und man erlaubte uns Holz anzuzünden, um uns ein wenig aufzuwärmen. Wir entfachten ein Lagerfeuer und warteten dort mehrere Stunden. Anfangs überwachten sie uns dabei. Doch irgendwann zogen sie sich zu unserem Erstaunen zurück und ließen uns im Wald allein. Bei Einbruch der Abenddämmerung beschlossen wir, etwas zu unternehmen. Wir arbeiteten uns durch den Wald bis zur Hauptstraße vor. Wir wunderten uns, als wir dort Kleinbusse ohne Nummernschilder ankommen sahen. Vermummte Männer stiegen aus und stellten uns vor die Entscheidung: Entweder sie bringen uns ins Landesinnere, wo wir wegen unerlaubten Grenzübertritts eingesperrt würden, oder zur polnischen Grenze. Natürlich entschieden sich alle für Polen. Sie setzten uns umgehend in die Minibusse und wir fuhren in Richtung Polen.
Polen
Als wir ankamen, wurden wir in einer Reihe hintereinander aufgestellt. Es war stockduster dort. Danach befahlen sie uns, vorwärts zu laufen, in die vollkommene Finsternis hinein, mitten in ein Maisfeld, das zwischen Belarus und Polen lag. So liefen wir etwa eine halbe Stunde, bis wir zu einem großen freien Feld kamen. Dort konnten wir schon die Lichter eines polnischen Dorfes erkennen. Wir beschlossen, dorthin zu gehen. Doch Nachtsichtkameras hatten unsere Bewegung registriert und polnische Grenzschützer kreisten uns vollständig ein.
Berlin
Der Grenzschutz begann, uns ins Landesinnere zu fahren. Die Familien kamen als erste dran. Ich musste drei Stunden auf diesem Feld warten, bis ich schließlich an der Reihe war. Man brachte uns zu einem ehemaligen Trainingslager. Dort wurden wir eine Woche lang in Gewahrsam gehalten. Dann versprachen sie uns, uns an einen besseren Ort zu bringen, doch es geschah genau das Gegenteil. In einer Aktion, die über zehn Stunden dauerte, transportierte man uns von diesem Lager zu einem ähnlichen Ort. Dort nahmen sie uns unser Geld und unsere Handys ab. Mich steckten sie mit zehn völlig fremden Leuten zusammen in einen Trakt. Zwecks Corona-Prävention blieb ich zwei Wochen in Quarantäne. Dann wurden wir auf einem Fußballplatz zusammengerufen. Das Gelände war vollständig eingezäunt. Auf ihm standen kleine Modulhäuser für jeweils vier Personen.
Vier Monate saß ich auf diesem Fußballfeld fest. Ohne Kontakt zur Außenwelt war ich zum Nichtstun verdammt. Schließlich entschieden sie, mich in ein weiteres Lager zu bringen, diesmal nahe der deutschen Grenze. Es war noch schlimmer als das davor. Im Grunde war es eher ein Gefängnis. Jeder Trakt beherbergte mehr als 200 Menschen, verteilt auf zehn Räume, also über 20 Leute pro Zimmer. Meine Privatsphäre bestand aus dem Bett, auf dem ich schlief. Weitere vier Monate musste ich das ertragen, bevor sie beschlossen mich am 1. April 2022 endlich freizulassen. Sie schickten mich in ein Waisenhaus im Landesinneren. Das war ein schwerer Moment, denn nun wurde ich von meinem Bruder und meinem Cousin getrennt. Ich war jünger und sie älter als 18 Jahre. Von nun an konnte ich mich jedoch frei bewegen. Drei Tage lang blieb ich in diesem Heim. Dann entschied ich mich, nach Warschau zu fahren, um von dort aus zu schauen, was für mich das Beste wäre. In Warschau blieb ich fünf Tage in einem Camp für ukrainische Flüchtlinge. Ich hatte ja sonst keine Unterkunft. Seit meiner Ankunft in Minsk waren nunmehr acht Monate vergangen und ich war ständig umhergezogen und hatte sehr viel erlebt. Da begann ich schon, das Ziel aus den Augen zu verlieren, um dessentwillen ich den Irak verlassen hatte. Mein Bruder und mein Cousin hatten ihre Fingerabdrücke in Polen abgeben müssen. Daher durften sie gemäß dem Dubliner Übereinkommen das Land nicht mehr verlassen. Ich musste also eine Entscheidung treffen und erinnerte mich an mein ursprüngliches Ziel, Berlin. Ich nahm mir ganz fest vor, dort hinzukommen, auch ohne einen klaren Plan und obwohl ich völlig allein war und niemanden dort kannte.
Neukölln
In Neukölln hatte ich meine erste Wohnung. Ich glaube, in dieser Wohnung in diesem Viertel habe ich die schönsten Zeiten meines Lebens verbracht. Ich ging durch die wuseligen Straßen spazieren und manches erinnerte sogar an meine Heimatstadt Basra. In Neukölln machte ich Bekanntschaft mit Berlin und es prägte mein Verhältnis zu dieser Stadt.
Deutsch
Ich lernte Deutsch und hätte mir niemals vorstellen können, diese Sprache so sehr zu lieben. Die Sprache ist der Schlüssel für alles hier. Durch sie habe ich neue Leute kennengelernt, Deutsche wie Nichtdeutsche, und sie hat mir neue menschliche Beziehungen ermöglicht. Eines Tages werde ich sie besser als die Deutschen sprechen.
Asyl
Als mein Asylverfahren begann, war ich noch minderjährig. Das war kurz nach meiner Ankunft hier. Anfang 2023 fand meine persönliche BAMF-Anhörung statt. Da war ich schon seit drei Monaten volljährig und mein Asylantrag wurde abgelehnt. Ich brach zusammen, verließ eine Woche lang die Wohnung nicht. Ich war verloren und wusste weder ein noch aus. Ein Flüchtlingsorganisation riet mir Widerspruch einzulegen und nicht aufzuhören, Deutsch zu lernen. Und genau das tat ich.
Freiwilligenarbeit
Ich begann mich bei Freiwilligenorganisationen zu melden und dort zu arbeiten, bei einem Kreuzberger Verein, der sich um Neuankömmlinge kümmert, bei der Neuköllner Suppenküche, die Bedürftigen hilft, indem sie wöchentlich für sie kocht. Ich brauchte diese Arbeit, um mich innerlich etwas zu fangen. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich auf einem Fest für Ehrenamtler in Neukölln als jüngster Freiwilliger ausgezeichnet würde. Als ich mit einem Freund verspätet zu dem Fest eintraf, wurde gerade mein Name aufgerufen und ich hatte keine Ahnung, was mich auf der Bühne erwarten würde. Es war ein seltsam schöner Moment.
Freundschaft
Rund zwei Jahre sind vergangen seit meiner Ankunft in Berlin. Eine neue Sprache, neue Orte, ein Wetter, das für mich zu kalt ist – vieles ist anders, als es früher war, und allem voran die neue Stadt. Ich glaube, in dieser Zeit habe ich viel erreicht und eine andere Welt kennengelernt. Doch immer, wenn ich zu mir sage, jetzt kennst du Berlin, kommt die Stadt zurück und überrascht mich mit etwas Neuem, und dafür liebe ich sie umso mehr. So manche Bedeutung des Wortes „Freundschaft“ habe ich erst hier kennengelernt. Berlin hat mich auch Disziplin gelehrt und einen eigenen Lebensrhythmus zu finden. Zu meinen Lieblingsorten gehört das Tempelhofer Feld, besonders wenn es im Sommer vor Menschen wimmelt, die sich hier in vielfältiger Weise vergnügen und Sport treiben. Besonders mag ich auch den Schillerkiez, ein kleines Viertel in Neukölln. Als Kind hatte ich davon geträumt, in Berlin oder London auf die Uni zu gehen. Seit ich hier angekommen bin, arbeite ich daran, diesen Traum wahr werden zu lassen. Trotz aller Schwierigkeiten habe ich in dieser Stadt gelernt, dass man niemals aufgeben darf. Jede Ablehnung im Leben bedeutet eine neue Chance.
Vor einiger Zeit kam ich mit einem irakischen Freund durch ein Viertel, in dem es nur kleine Straßen und alte Häuser gab. Gedankenverloren sagte ich zu ihm: „Komm, ich zeig dir mal was wunderschönes in meiner Gegend.“ Mein Freund fragte mich: „Welche Gegend meinst du denn?“ „Die Altstadt von Basra“, sagte ich. Da mussten wir beide lachen und während wir weiterliefen, dachte ich mir: Berlin könnte mein neues Zuhause werden.