An diesem grauen Tag sitze ich im Regionalzug von Berlin nach Nürnberg, um Freunde zu treffen. Früher in der Ukraine trafen wir uns mehrmals pro Woche, hier sehen wir uns alle halbe Jahre. Heute habe ich verschlafen und nicht einmal geschafft, mir vor der Reise einen Kaffee zu kaufen. Deswegen kommt mir der heutige Tag trotz meines Reiseziels eher trist vor. Die blauen Sessel sind das Einzige, was diesem Tag etwas Farbe verleiht. Das Licht aus dem Fenster leuchtet bleich und unerwartet grell in mein Gesicht.
Ich schließe die Augen und vertiefe mich in meine Gedanken. Sie sind so zäh, dass es sich anfühlt, als könne ich sie über die gesamte Eisenbahnstrecke von Berlin bis in die Ukraine ziehen, bis in meine Stadt. Ich falle in die Erinnerungen wie in Schlaglöcher, in die vertrauten Viertel meiner Heimatstadt Saporischja. Achtstöckige Hochhäuser mit fahlgelben verwitterten Wänden. Eine breite Straßenkreuzung mit vielen Ampeln, beim Überqueren der Straße kann man eine lange Allee sehen. Mein Magen knurrt und ich muss sofort an das Logo der ATB-Kette denken, das von einer Hausfassade ragt. Dort würde ich jetzt meinen Lieblingsschokoriegel mit dem knusprigen Kekskern kaufen. An der Kasse würde man mich auf Ukrainisch grüßen und ich würde lächeln, denn es ist unglaublich beglückend, eine Sprache zu hören, die man von der ersten Sekunde an versteht. Beim Verlassen des Ladens würde ich sofort die Verpackung aufreißen und in den Riegel hineinbeißen. Zwei Männer würden an mir vorbeigehen, während der eine dem anderen auf Russisch sagt: „Naja, jedenfalls ... verstehst du, gerade sind so unsichere Zeiten ...“. „Ich verstehe“, denke ich und erinnere mich daran, dass ich Russisch sogar besser verstehe als Ukrainisch.
In diesem Moment richtet sich meine gesamte Aufmerksamkeit auf diese Erkenntnis. Ich öffne die eine Mappe mit dem Titel „Die Sprache. Ein Konflikt?“. Ich ziehe einen Haufen Papiere raus und lese die Überschriften: „ Die Sprache – die DNS der Nation?“, „Meine Sprache der Liebe wird jetzt gehasst“, „Gedanken – ausgesprochen und im Kopf“, „Kann ich dieselbe Sprache wie meine Feinde sprechen? Ist es die Sprache meiner Feinde?“, „Gesetz, Verfassung, Diskriminierung, Minderheiten“, „Bin ich eine Minderheit?“, „Kann ich sowohl die eine als auch die andere Sprache lieben?“, „Warum ist es so wichtig geworden?“, „Wird mir das aufgezwungen oder ist es aus Liebe?“.
Um meinen Hals schnürt sich ein unsichtbares blaues Tuch, das immer enger wird. Ich kann kaum noch atmen. Über die Wange fließt mir eine Träne. In diesem Moment spüre ich eine warme Hand, die beruhigend mein Knie berührt.
„Entschuldigung, sind Sie in Ordnung?“, höre ich eine Frau sagen, die ich nur verschwommen sehe. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und sehe wieder zu ihr. Sie sitzt mir direkt gegenüber, am Fenster. Eine schöne Frau, vielleicht 35 Jahre alt, das kastanienbraune Haar zu einer eleganten Frisur zusammengebunden, in einem dunkelblauen Seidenkleid mit langen Ärmeln und Saum. Mit einem Lächeln blickt sie mir fürsorglich in die Augen. „Ja, Entschuldigung, alles in Ordnung“, antworte ich ihr, nachdem ich tief Luft geholt habe. „Wissen Sie, mir scheint, die Leute müssen mehr miteinander reden, vor allem in Zeiten wie diesen. Wenn Sie mir erzählen wollen, was Sie so traurig gemacht hat, höre ich Ihnen sehr gerne zu. Übrigens, wie heißen Sie?“
„Anastassiia“, antworte ich. „Sehr angenehm. Also, Anastassiia, was wühlt Sie so auf?“, fragt sie mich mit aufmerksamen Blick. „Die Sprache wühlt mich auf“, sage ich. „Die Sprache? Wie kann Sprache aufwühlen?“, hakt sie nach. „Also nicht die Sprache, sondern eher, das Verhältnis dazu, verstehen Sie? Als Kind habe ich Russisch gesprochen und Ukrainisch habe ich erst mit sieben oder acht gelernt. Danach schrieb und redete ich, wie es sich ergab. Ukrainisch in der Schule, Russisch zu Hause.“, versuche ich zu erklären. „Und was stört Sie daran?“, will die Frau wissen.
„Dass ich meine Liebesgeständnisse immer auf Russisch gemacht habe. Dass alle meine Gedichte auf Russisch sind. Dass alle meine Gedanken auf Russisch waren und ich jetzt in einer anderen Sprache denken und reden muss, sonst bin ich keine richtige Ukrainerin, heißt es. Obwohl ich überhaupt nicht verstehe, wie meine Staatsangehörigkeit im Konflikt zu meiner Sprache stehen kann. Warum kann ich nicht einfach so sein, wie ich bin?“
„Das ist eine gute Frage“, bemerkt sie, „aber ich habe noch eine für Sie.“ „Welche?“, frage ich gespannt. „Lieben Sie die ukrainische Sprache?“, fragt sie. „Ich denke schon.“, erwidere ich. „Lieben Sie die russische Sprache?“, fragt sie weiter. „Ich denke auch“. „Sie benutzen also am liebsten beide Sprachen?“, fragt sie mit erhobenen Augenbrauen. „Ja. Aber ich werde gezwungen, nur eine zu sprechen. Das ist es, was mich stört.“
„Meine Liebe, es wird immer jemanden geben, der Ihnen was vorschreiben will. Aber ich glaube, das Wichtigste im Leben ist, sich auf seine eigenen Überlegungen und Vorstellungen zu verlassen. Oder was nehmen Sie aus diesem Gespräch mit?“
„Vielleicht, dass ich beide Sprachen liebe und mich nicht für eine entscheiden muss. Aber was, wenn ich für mein Russisch verurteilt werde?“, frage ich ängstlich. „Meine Liebe, egal wie viel man Sie verurteilt, am Schlimmsten ist es, sich selbst zu verurteilen. Können Sie in Frieden leben, wenn Sie auf die Sprache verzichten, die Sie als Kind gesprochen haben? Können Sie auf die Sprache verzichten, in der Sie in der Schule Aufsätze geschrieben haben?“, lauten die nächsten Fragen, die sie mir mit einem leichten Lächeln stellt. Ich schüttle stumm den Kopf.
„Na dann. Denken Sie nur daran, was für Sie wichtig ist. Ihr Leben hat oberste Priorität. Leben Sie so, wie Sie es für nötig halten. Die Kämpfe werden nicht enden. In historischer Hinsicht ist es kaum möglich, sie zu gewinnen, aber die persönlichen Kämpfe schon. Und noch besser ist es, erst gar nicht mit sich selbst zu kämpfen, Liebes, es wird auch so noch genug Herausforderungen für Sie auf dieser Welt geben. Seien Sie auf Ihrer Seite.“
Und mit diesen Worten steht sie auf und entfernt sich Richtung Ausgang, als würde sie sich im Blau der Sessel auflösen, während ich ihr mit dem Blick folge. Später wird von ihr nur noch der Satz „Seien Sie auf Ihrer Seite.“ übrig bleiben und lange in meinem Kopf nachhallen.