Ein deutsches vierstöckiges Haus. Ein Gebäude aus der Gründerzeit in Berlin-Charlottenburg. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock ohne Fahrstuhl. Unsere Sachen herzuschaffen war überhaupt nicht schwer, denn alles, was wir hatten, waren Kleidung und Schuhe, die uns netterweise ein Berliner überlassen hat, als wir noch bei ihm untergebracht waren. Außerdem schenkte er uns Handtücher und Küchengeschirr. Die Wohnung zeichnet sich durch ihren großzügigen Schnitt aus, die Decken sind mindestens drei Meter hoch. Deswegen hängen noch keine Lampen dran, dafür muss eine hohe Leiter her.
In einer Ecke des Schlafzimmers steht ein hoher, hellblau gekachelter Ofen. Genau die gleichen Kacheln zierten das Bad meiner Kindheit. Auch der Backofen im Haus meiner Eltern hatte diesen zarten hellblauen Ton. Damit enden die Gemeinsamkeiten. Ich war 15 Jahre alt, als ich die Wohnung meiner Eltern und mein sorgenfreies Leben verließ. Danach kamen Studentenwohnheime und Familienwohnungen. Irgendwann trennte ich mich und mietete mir eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss.
Die Wände unserer neuen Wohnung sind dick, der Boden aus Holz und nicht aus Linoleum oder Laminat wie in der sowjetischen Platte. Nachts wirst du hier nicht das Bett des Nachbarn von oben quietschen hören. Und du selbst brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, wenn dir einmal im Moment von Nähe und Kontrollverlust ein Schrei herausrutscht. Er wird deine Nachbarn auf keinen Fall wecken, solange die Fenster geschlossen sind.
Ich gehe in die Küche, um eine Orange und einen Apfel in Stücke zu schneiden. Damit sie nicht braun werden, mache ich es kurz vor seiner Ankunft. Aus der Schublade hole ich ein großes, scharfes Messer. Damit lässt sich die Orange leicht in schmale Halbmonde schneiden. Dieses Messer hat er mir letztes Mal mitgebracht. Er wollte mir helfen, das Abendessen vorzubereiten, aber ich hatte nur ein kleines Messer da. Deswegen kam er zum nächsten Treffen mit mehreren Messern verschiedener Größen.
Das Gebäude, in dem wir jetzt wohnen, hat sicher den Zweiten Weltkrieg überlebt. Überhaupt waren laut Historikern 1945 nach Kriegsende nur elf Prozent aller Berliner Wohnhäuser komplett zerstört, acht Prozent stark beschädigt, zehn Prozent mussten repariert werden und die restlichen 70 Prozent konnten bewohnt werden. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wer hier früher gelebt haben könnte. Ob hier ein Offizier der Wehrmacht wohnte, den es in die Sowjetukraine verschlagen hat? Oder eine alleinerziehende Mutter, deren Sohn eingezogen wurde und nie zurückgekehrt ist? Ob die Mutter danach selbst das Brennholz für den Ofen hochschleppen musste, solange sie Kraft dazu hatte? Ob hier ein kinderloses Paar lebte? In der Ukraine ist ein Haken in der Decke des Schlafzimmers ein Hinweis darauf, dass in der Wohnung Kinder aufgewachsen sind, denn daran wurden die Wiegen aufgehängt. Sie hingen direkt am Bett, so konnte die Mutter oder der Vater das Kind nachts wiegen, ohne aufzustehen. Ob hier wohl solche Hängewiegen einmal in Mode waren?
Und diese Kneipe an der Straßenecke, wie lange gibt es sie? Hat sie Erich Maria Remarque ab und zu besucht, dessen Initialen eine Tafel an einem Haus 200 Meter von hier zieren? Genau dort hat er Im Westen nichts Neues geschrieben. An der nördlichen Front, wo wir vor unserer Flucht waren, gab es nach 53 Tagen Bomben und Beschuss auf Tschernihiw sehr viel Neues. Die russische Armeeführung wollte die regionale Hauptstadt Tschernihiw einnehmen und über die Schnellstraße Richtung Kyjiw weiterziehen. Die heftigen Gefechte dauerten fünf Wochen lang an, aber die russische Armee konnte nicht bis Tschernihiw vordringen. Nach einer Reihe militärischer Rückschläge zogen sich die russischen Truppen Anfang April aus der Region zurück. Laut Schätzungen der Militärverwaltung wurden in diesem Zeitraum etwa 500 Zivilisten getötet und über 1500 verwundet. Während der Besatzung wurde zivile und kritische Infrastruktur in der gesamten Region massiv geschädigt, der Wohnungsbestand einiger Dörfer zu 60–70 Prozent zerstört.
Vielleicht mussten im Herbst 1938 aus dieser Wohnung ihre jüdischen Bewohner fliehen? So viele Stolpersteine liegen vor dem Haus. Ganze Familien sind umgekommen. Gut möglich, dass hier nach der Teilung Berlins Franzosen gewohnt haben, Charlottenburg gehörte ja zum französischen Sektor.
Höchstwahrscheinlich waren die ersten Eigentümer dieser Wohnung nicht besonders wohlhabend. Die Küche ist winzig, es gibt keinen Balkon, keine Badewanne und keinen Stuck an der Decke, und eine Dienstmädchenkammer wie in anderen Häusern dieses Stadtteils gibt es ebenfalls nicht.
Nachdem ich das Gemüse geschnitten habe, gucke ich nach dem warmen Gratin im Backofen und gehe ins Wohnzimmer. Dort fällt mir der Wäscheständer auf. Die Kleidung ist schon trocken, sodass ich sie wieder in den Schrank einräumen kann. Anfangs habe ich meine Wäsche auf einem kleinen Heizkörper im Schlafzimmer getrocknet und die Bettwäsche an die Zimmertür gehängt. Man kann sich nicht über Nacht mit allem eindecken. Als ich mit hohem Fieber krank im Bett lag, kam er uns fünf Tage hintereinander jeden Abend nach der Arbeit besuchen. Er brachte mir Medikamente und Essen, spülte das Geschirr, wusch meine Wäsche, ging mit meiner Tochter im Park spazieren und half ihr bei den Hausaufgaben. Einmal hatte er sich schon verabschiedet und war gegangen, aber klingelte zehn Minuten später wieder an der Tür. Als ich aufmachte, stand er lächelnd mit einem Wäscheständer da. „Bis ihr einen neuen besorgt, tut es der hier auch. Jemand auf eurer Straße hat ihn rausgestellt“, erzählte er fröhlich. Ich will, dass der Wäscheständer uns so lange dient wie nur möglich, ich will keinen neuen. Er war extra zurückgekommen und hatte seine Bahn verpasst, um uns dieses unerwartete Geschenk zu machen.
Ich gehe ins Schlafzimmer und trage ein wenig Parfüm auf. Dann werfe ich einen Blick in den Spiegel und richte mir die Haare. Ich trete ans Fenster und öffne einen Flügel. Die Fenster unserer Berliner Wohnung gucken in den Innenhof, der so klein ist, dass hier nicht einmal Kinder Platz zum Spielen haben. Deswegen ist es hier so leise, dass man hört, wie ein Vogel vom Ast auffliegt, um auf einem anderen Baum zu landen. Das Fenster im Schlafzimmer ist gegenüber dem Eingang in den Hof. Überall in Berlin wurden die Häuser um Innenhöfe gebaut, nicht in Blöcken, wie in der Ukraine. Ich finde, das hat eine Menge Vorteile. Zum Beispiel ist es gut für das Sozialleben. Ich muss nur daran denken, das Fenster zu schließen, bevor er mich auf den Händen ins Bett trägt, um die Nachbarn nicht zu stören.
Ich erinnere mich daran, wie ich in der Ukraine aus dem Schulkeller zu meinem Haus eilte, um für die Evakuierung zu packen. Es war die zweite Woche in Folge, in der russische Truppen versuchten, die Verteidigung der Stadt zu durchbrechen. Trotz des ständigen Beschusses und der Gefahr, verwundet zu werden, stand am Eingang ein Mann Wache. Ich sollte nachweisen, dass ich in diesem Haus wohne und nicht hineinrenne, um etwas zu stehlen, oder, noch schlimmer, Mitglied eines russischen Sabotagetrupps bin. Er wollte meinen Reisepass sehen. Was zum Teufel, dachte ich. Meine Tochter ist allein im Keller, ich habe keine Zeit zu verlieren, könnte von einer Rakete getroffen werden, oder aber der Keller, in dem meine Tochter schläft, könnte getroffen werden – und ich muss diesem Fremden etwas beweisen. „Und wer bist du? Vielleicht willst du mich als Geisel nehmen. Vielleicht bist du Russe und willst in meine Wohnung einbrechen und etwas stehlen oder an mein Essen?“, konterte ich. Seine Zivilkleidung verriet allerdings, dass er kein Russe war. Er nannte mir seinen Namen und die Nummer seiner Wohnung. Ich nahm den Schlüssel aus meiner Jackentasche und sagte, das solle ihm Beweis genug sein, schließlich würde ich nicht durchs Fenster in die Wohnungen klettern. Meine Wohnung befand sich im ersten Stock eines fünfstöckigen Gebäudes. Es gab keinen Aufzug. Ich musste nie die Treppe hoch. In der Nähe unseres Hauses gab es auch keinen Spielplatz, auf den ich mit meiner Tochter hätte gehen können, sodass ich nach den drei Jahren, die wir dort wohnten, keinen einzigen Nachbarn kannte. In Berlin wiederum habe ich mich vom ersten Tag an mit nahezu allen Nachbarn angefreundet. Man kann nie wissen, dachte ich.
In dem Keller, in dem wir Unterschlupf gesucht hatten, waren etwa 200 Menschen und niemand, den ich bitten konnte, auf meine Tochter aufzupassen, während ich weg war. Was ist, wenn in Berlin der Krieg ausbricht und wir alle für längere Zeit in einem Keller zusammenleben müssen? Dann hätte ich wenigstens jemanden, den ich bitten könnte, sich um meine Tochter zu kümmern.
Ich bin die einzige Ukrainerin in diesem Haus. Deswegen bin ich für meine Nachbarn Projektionsfläche für die Sitten, das Leben, die Traditionen und den Charakter aller Ukrainer, denn außer mir haben sie noch nie näher mit uns zu tun gehabt. Vielleicht haben sie früher nicht einmal zwischen Ukrainern und Russen unterschieden.
Ich stehe verträumt am Fenster und warte darauf, ihn im Hof zu sehen, um ihm entgegenzukommen und die Tür zu öffnen. Ich will keine Minute unseres Treffens vergeuden. Zuerst sehe ich seinen Löwenzahnkopf, den er im niedrigen Durchgang zum Hof einziehen muss. Bei klarem Wetter sieht es aus, als würden seine leichten, freiheitsliebenden Locken in alle Richtungen davonfliegen. Und bei Regen sind sie wie die erste Morgenwolke am Himmel, dicht und klar umrissen. Er trägt einen Rucksack. Eine Papierrolle guckt raus. Was für Blumen es wohl diesmal sind? Ach egal, er wählt immer Blumen mit dem Duft meines früheren Zuhauses. Er weiß viel über die Ukraine, hat als Kind sogar mein Heimatland besucht. Jetzt, in meiner Berliner Übergangswohnung, werden mich neben den Kacheln am Herd auch die Blumen, die er mir schenkt, an daheim erinnern, vielleicht werden es die gleichen sein, die meine Mutter vor ihrem Haus gepflanzt hat. Es klingelt an der Tür. Ich öffne und umarme ihn, als ob ich in ihn hineinwachsen würde. Ich werde zu einem grünen, jungen Efeu, der an den grauen deutschen Hauswänden hochkriecht. Ich schließe die Augen und halte den Atem an, um seinen Körper besser riechen zu können. Er riecht nach Frieden, nach Heimat. Wenn er in der Nähe ist, fühle ich mich wie zu Hause.