Berlin ist eine wählerische Stadt, die sich ihre Bewohner ganz genau aussucht. All deine Versuche, dich ihr aufzuzwingen, werden scheitern: Sie wird dich absondern, aushungern, auf dir herumkauen, dich ausspucken, dich auf ihre Straßen schmeißen. Ohne jedes Erbarmen.
Es ist eine Stadt, die meine Jahre verschluckt, die meine Kraft, Lust und Begeisterung aufsaugt. Ich komme mir vor, als würde ich Luftschlösser bauen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir in ihrer Brust zusammengepfercht und ausgehustet werden.
Doch keine Angst, ich bin nicht böse, ich liebe diese Stadt. An keinem anderen Ort der Welt würde ich lieber sein. Denn sie verwandelte mein Unbehagen, hier fremd zu sein, in das Bedürfnis danach, anders zu sein, in eine Art von Widerstand und in einen Teil meiner Identität. Sie hat bewirkt, dass der Begriff „Integration“ nun ein „Nachgeben“ bedeutet, das mir zuwider ist. Wie könnte es auch anders sein, da die Parteien „Integration“ als Dressur von Barbaren begreifen? Daher wurde mein Anderssein zu einer Art von Revolte.
Berlin, September 2015
Als ich und mein Bruder die deutsche Grenze erreichten, nahm man uns fest und steckte uns in eine Massenunterkunft, die circa 200 Leute fasste. Nach einer Woche wurde uns Berlin zugewiesen.
An diesem Tag überkam mich eine unglaubliche Freude: Noch am selben Tag um fünf Uhr nachmittags sollte der Zug nach München abfahren, von wo es weiter nach Berlin gehen sollte. Wir fragten den Putzmann nach zwei Plastiksäcken für unsere Sachen. Er zog zwei blaue Plastiksäcke aus seinem Putzwagen und gab sie uns. Wir taten unsere Sachen hinein, gingen zum Bahnhof und fuhren nach München. Um dort zu dem richtigen Gleis zu gelangen, liefen wir von einem Passanten zum andern, hielten ihnen die Fahrkarten und die Zuweisungsbescheide hin: Wir konnten ja nicht lesen, was darauf stand, doch wir klammerten uns an sie, als hinge unser Schicksal davon ab.
Ohne zu zögern stiegen wir ein und fuhren los in Richtung Berlin, in der abgetragenen Kleidung, in der wir bereits übers Meer und durch Osteuropa gereist waren, in den Händen blaue Plastiksäcke, die mit Klamotten vollgestopft waren. Die Passagiere in unserem Waggon schienen sich über unser Aussehen zu wundern. Keine Ahnung, was ihre durchdringenden Blicke besagten. Der Kontrolleur sah uns vom Waggonende aus, kam auf uns zu und fragte höflich nach den Fahrkarten. Wie schon zuvor zeigte ich sämtliche Papiere vor und ließ ihm die freie Wahl.
Er machte uns darauf aufmerksam, dass wir in der ersten Klasse saßen, und bat uns ihm zu folgen. Wir standen auf und er geleitete uns in einen Waggon, in dem es schon Plastiksäcke wie die unseren gab. Er ließ uns freie Platzwahl und wir setzten uns.
Als wir in Berlin einfuhren, waren ich und mein Bruder in unserem Waggon die letzten Passagiere mit blauen Plastiksäcken. Es war schon kurz nach Mitternacht.
Mein Bruder: „Wie erkennen wir die, die hier auf uns warten?“
Ich: „Sicher werden sie Schilder oder etwas anderes hochhalten, damit wir sie erkennen.“
Dabei hatte uns eigentlich niemand versprochen, dass uns am Bahnhof jemand empfängt. Doch schien es uns völlig selbstverständlich. Denn wer schickt schon jemanden nach Berlin, mit einem Zug, der erst nach Mitternacht ankommt, in eine der größten Metropolen Europas, ohne Sprache, ohne Geld, ohne irgendwelche Verständigungsmittel, selbst ohne Internet? Da wird doch sicher jemand auf uns warten! „Das ist ja schließlich Deutschland, Bruder …“, meinte ich voller Gewissheit.
Der Zug hielt an, die Türen wurden geöffnet. Dies sollten unsere ersten Schritte in Berlin sein.
Wir entfernten uns etwas von den Zugtüren, wandten unsere Köpfe nach rechts und nach links und hielten Ausschau nach denen, die „doch sicher auf uns warten“. Doch irgendwann waren nur noch wir auf dem Bahnsteig.
Mein Bruder: „Ist so was möglich? Es ist immer noch keiner da!“
Ich: „Bei Gott, ich weiß auch nicht. Ich fürchte, sie laufen hier irgendwo rum, weil sie nicht wissen, wo wir aussteigen.“
Mein Bruder: „Schau mal in den Papieren, ob da was steht, an welcher Stelle wir uns treffen.“
Ich: „Wieso denn? Kann ich das etwa lesen? Ich frag mal die da im orangenen Overall.“
Ich ging zu einem von ihnen und sagte in bescheidenem Englisch: „Entschuldigen Sie … Ich habe eine Frage … Wir suchen die, die uns vom Bahnhof abholen sollen. Wir wurden von München hierhergeschickt.“
Der Mann in Orange: „Ich weiß nix davon. Warten Sie mal, ich frag mal bei der Information.“
Er ging und kam wieder, um uns mitzuteilen: „Hier wartet keiner auf Sie. Sie müssen sich dort hinwenden …“ und zeigte mit dem Finger auf die Adresse:
Turmstraße 21
10559 Berlin
Dann ging der Mann in Orange fort. Und ich starrte wie bescheuert auf die Adresse: „Und wo soll das sein?“
Damaskus, Sommer 2014
Ich war 16 Jahre alt. An diesem Tag war ich in der aṭ-Ṭilyāni-Straße.
Der Meister: „Ab Zahra, komm her, nimm das Geld, geh ins Zimmer, zähl es und komm wieder her.“
„Meister, es sind 250 Tausend.“
„Gut. Kennst du die Fabrik von Abu Schukri? Geh da hin, lass das Geld vor deinen Augen zählen und lass dir eine Quittung geben.“
„Ich weiß nicht, wo die Fabrik von Abu Schukri ist.“
„Ganz einfach, geh runter auf den Maisāt-Platz, da siehst du den Kartoffelsandwich-Laden, von da aus gehst du bis ganz nach oben, dann die erste Straße linker Hand entlang, zwei Häuser hinter dem Geheimdienstgebäude steht die Fabrik. Da nimmst du den Eingang, gehst runter in den Keller und sagst ihm: ‚Mein Meister lässt Ihnen ausrichten, hier ist die Restzahlung. Ich brauche eine Quittung darüber …‘, und er soll dir die neuen Modelle mitgeben.“
„Ok, wird gemacht.“
Berlin, September 2015
Ich denke mir: „Verdammt, was bedeuten diese Zahlen?“, und schaue auf die Stelle, die wohl eine Adresse sein soll. Da standen wir also, ich und mein Bruder, auf einem Bahnsteig im Berliner Hauptbahnhof.
In Damaskus sind die Gebäude auch nummeriert. Doch irgendein Merkmal hat die Zahlen verdrängt. Wer bei uns die Masākin-Barzeh-Str. 3 meint, sagt zum Beispiel: Vorne an der Masākin-Straße über dem Unterwäscheladen.
Häuser und Straßen, ja selbst unsere Namen, werden in Damaskus mit zusätzlichen Kennzeichen versehen. Zum Beispiel: Abū n-Nazlas Laden. Warum auch nicht? Denn was soll das sein: Namen wie Zahlen, ohne Melodie und Charakter, die allenfalls auf eine Religion oder die geographische Lage verweisen? Daher ist der Spitzname bei uns so wichtig, wenn du jemanden genauer bezeichnen willst. Den wird er dir aber nicht nennen, wenn du ihn zum ersten Mal kennenlernst. Er wird sich mit „Ali“, „Ahmed“ oder „Zīdān“ vorstellen. Doch mit der Zeit nehmen Namen Merkmale an: „Security-Ali“ zum Beispiel, oder „Ahmed, der bei der Beratung arbeitet“, oder „Zīdān mit dem Schlabberlook“.
Ich und mein Bruder traten nach draußen. In den ruhigen Straßen waren nur wenige Menschen. Ein paar Obdachlose lagen vor dem Bahnhof.
Mein Bruder: „Gut. Und was machen wir jetzt?“
Ich: „Bei Gott, ich weiß auch nicht mehr als du.“
Was wir damals nicht wussten: Wir hätten in circa einer halben Stunde dorthin laufen können. Doch wir hatten kein Internet. Also versuchte ich, auf Englisch Passanten zu fragen. Die aber hatten es alle eilig, und ihre Richtungsangaben waren unklar. Dabei habe ich viele angesprochen. Manch einer machte sich nicht einmal die Mühe, uns anzuschauen, weil er meinte, wir wären Obdachlose, die um Geld betteln, dabei waren wir nur Obdachlose, die um Auskunft betteln. Nachdem wir etwa eine Stunde lang herumgetappt waren, standen wir vor einem Gebäude, auf dem „Polizei“ geschrieben stand, den Rest auf Deutsch konnte ich nicht entziffern.
Ich klingelte und hörte eine deutsche Antwort und verstand natürlich nichts.
Ich (auf Englisch): „Wir sind Flüchtlinge aus Syrien. Sie haben uns von München nach Berlin geschickt. Sie haben uns Papiere gegeben. Wir sind verloren. Wir haben keinen Schlafplatz gefunden.“
Da unterbricht mich die Sprechanlage: „Sie wissen, dass das hier ein Gefängnis ist?“
Ich: „Nein. Gut. Können wir bei Ihnen schlafen?“
Die Sprechanlage: „Natürlich nicht …“
Wir setzten unseren Weg fort, gemäß dem Rat eines Passanten, immer geradeaus, bis zu der und der Kreuzung und dann wieder fragen. An dieser Kreuzung lief gerade ein Mann vorbei, den ich anhielt, um ihn nach dem Weg zu fragen. Der schaute uns an und fragte: „Ihr sprecht Arabisch?“
Ich antwortete: „Sicher, wir kommen aus Syrien.“
Der Mann: „Ja also, dann sprich Arabisch mit mir! Hahahahahaha, sieht man etwa nicht, dass ich ein Araber bin?“
Ich selbst sprach eigentlich jeden, der keinen blauen Sack trug, auf Englisch an. Doch ich antwortete ihm: „Doch, doch, ich hab es irgendwie geahnt. Wie dem auch sei, schau mal die Adresse hier: Wir suchen jetzt schon die ganze Nacht lang, man hat uns von München aus dorthin geschickt.“
Der Mann nimmt den Zettel und liest die Adresse: „Verdammt, das ist ja das Sozialamt! Warum seid ihr nicht früher am Tag gekommen?“
Darauf mein Bruder: „Ach so, du meinst wohl, wir haben uns das ausgesucht? Die haben uns doch die Fahrkarte gekauft! Um ein Uhr nachts sind wir angekommen!“
Ich: „Was ist denn dieses Sozialamt?“
Der Mann: „Möge ihr Himmel erblinden, die schicken euch außerhalb der Öffnungszeiten zum Sozial?!“
Ich frage noch einmal nach: „Ja, aber was ist dieses Sozial?“
Der Mann: „Los, kommt mit mir, ich bringe euch zum Camp. Da schlaft ihr euch erst mal aus, und morgen geht ihr zum Sozial, damit sie euch in irgendein Heim stecken. Das Sozial ist gleich hinter dem Camp.“
Wir gingen also zum Ballon-Camp. Von außen sah es aus wie eine Quarantänestation oder ein Forschungslabor in der Wüste, das vage einem Ballon ähnelte. Als wir hineingingen, bot sich uns ein seltsamer Anblick: kleine Flächen, die durch hängende Bettlaken in Quadrate unterteilt waren, grellweißes Licht, die meisten Leute schliefen – dort hindurchzulaufen war wie ein Rätsel zu knacken oder sich in einem Labyrinth zurechtzufinden. Einer der Security-Leute brachte uns zu einem Quadrat. Dort lagen schon zwei Leute und unterhielten sich.
Ich und mein Bruder traten ein: „As-salāmu ʿalaikum.“
Sie antworteten: „Wa ʿalaikum as-salām.“
Wir warfen die blauen Säcke neben das Bett. Wir waren physisch wie psychisch völlig ausgelaugt und doch verspürten wir so etwas wie Erleichterung, denn wir befanden uns ja mitten unter Leuten, die einem Neuanfang entgegensahen.
Der Security-Mann: „Wir sind eigentlich voll und lassen euch nur heute mal rein, weil ihr den ersten Tag in Berlin seid. Gleich morgen früh müsst ihr aber zum Sozial gehen“, dann zog er ab.
Ich sagte zu den Jungs in unserem Kabuff: „Was zum Teufel ist dieses Sozial?“
Sie: „Da musst du Asyl beantragen, damit sie dir ein festes Heim zuweisen.“
Mein Bruder fragte nach: „Aha, das heißt, euch haben sie hier reingesteckt?“
Die Jungs: „Nö, wir sind nur zum Schlafen hier, und morgen gehen wir zum Sozial. In circa zwei Stunden sind wir weg.“
Aus diesen zwei knappen Sätzen ergaben sich Fragen über Fragen, zum Beispiel: Wie kommt es, dass ihr hier schlaft und jeden Tag zum Sozial geht? Und was soll das für ein Termin sein, frühmorgens um vier?
Doch die Erschöpfung war zu stark. Weitere Erklärungen mussten warten, und wir fielen in einen tiefen Schlaf.
Als es neun Uhr wurde, wachten wir auf, nahmen unsere blauen Säcke und gingen los. Am Eingang des Heims gab man uns eine Karte mit unserem Standort und dem Weg zum Sozial.
Doch jede Frage erübrigte sich, als wir ankamen. Hier waren wir unverkennbar am richtigen Ort, hier kamen und gingen Dutzende von Menschen aus aller Herren Länder. Hier zog sich eine Schlange von Hunderten wartender Menschen über das Gelände. Weitere Hundert standen bei einem anderen Gebäude an, weitere Hundert vor einer Anzeigetafel auf dem Platz, weitere Hundert verteilten sich in die Grünanlagen, noch weitere Hundert vor die Verpflegungszelte … je mehr man schaute, desto mehr Hunderterschlangen konnte man entdecken.
Auf dem Platz fragten wir einen der Security-Leute, wo wir jetzt hingehen müssen. Der zeigte auf die längste Schlange. Deren Ende reichte fast bis zum Ausgang zurück. Dort standen die Menschen hintereinander und ordentlich aufgereiht. In der Mitte war die Schlange schon nicht mehr so gerade, denn hier standen Dutzende Menschen nebeneinander. Doch am Anfang, direkt am Gebäude, herrschte ein unglaubliches Gedränge. Hätte man von den Leuten verlangt, sich hintereinander anzustellen, wäre die Schlange wohl kilometerlang geworden.
Ich meinte zu meinem Bruder: „Hier können wir uns unmöglich anstellen!“, so als würde es sich hier um eine Strafe handeln und ich jede Schuld von mir weisen.
Ländliches Umland von Damaskus, Januar 2015
Es ist vier Uhr am Morgen.
Meine Mutter: „Los, steh auf (Mögest du Gott gefallen!), mach hin und stell dich beim Bäcker an, bevor das Brot wieder alle ist, so wie gestern …“
„Ich will nicht, es ist echt kalt! Ich geh nachher zu Abū n-Nazla. Er meinte, er wird heute Brot in den Laden bringen.“
„Ich sag dir, mein Sohn, da kommt kein Brot und auch sonst nix. Steh auf (Möge Gott an dir Gefallen finden!), wir haben kein bisschen Brot mehr … Und zieh dich warm an, der Schnee reicht schon bis zu den Knien!“
„Ich steh ja schon auf, ich steh ja schon auf … Gott verdamme dieses ganze Leben … Tag für Tag nach Brot anstehen, nach Gas anstehen, nach Diesel anstehen … und dann die Wasserkanister … Gott erlöse mich so schnell wie möglich von diesem ganzen Dusel.“
Als ich nach vier Stunden Warten in Schnee und Kälte am Ladenfenster angelangt bin, stecke ich schnell meinen gefrorenen Kopf durch das Fenster, damit er sich in der Backstube wieder etwas aufwärmt und ich meine Nase wieder spüren kann. Für einen kurzen Moment des Friedens umarmt mich der Geruch von Brot.
Der Bäcker: „Eine Minute noch, das nächste Brot ist schon im Anmarsch.“
Ich: „Lass dir Zeit.“
Vor mir bewegt sich monoton das eiserne Förderband und gibt ein metallisch-reibendes Geräusch von sich. Nach etlichen Minuten kommen die ersten Fuhren von frischem Brot. Die Fladen werden vor dem Bäcker hingeschüttet, der sofort beginnt, je sieben Fladen übereinanderzulegen und beiseite zu tun – jemand vom Militär würde sie später abholen. Und wohin? Vermutlich ins Haus der Offiziere. Zu Abū n-Nazla sicherlich nicht.
Der Bäcker: „75 Lira bitte.“
Ich: „Aber ich will drei Packungen!“
Der Bäcker: „Es gibt nur eine Packung pro Person.“
Ich gebe ihm die 75 Lira. Er wirft mir den Packen zu und trifft meinen hereingesteckten Kopf. Als ich die Schlange verlasse, sehe ich, dass Abū n-Nazla hinter mir angestanden hat, starr vor Kälte, im Ledermantel, die Hände in den Hosentaschen, den Schal um den Kopf gewunden, um auf seine sieben Fladen zu warten und alle zu enttäuschen, die auf ihn gesetzt haben, einschließlich mir selbst.
Auf dem Heimweg umgehe ich den Checkpoint, denn der pflegt von jedem Glücklichen zwei Fladen Brot als Zoll einzubehalten.
Sozial, September 2015
Um zehn Uhr stellten wir uns hinten an. Um sechs Uhr schloss das Sozial. Wir waren keinen Schritt vorangekommen. Im Gegenteil: Der Baum, der um zehn neben uns gestanden hatte, stand jetzt näher am Eingang als wir.
Als wir das Gelände verließen, saßen am Ausgang Dutzende Menschen am Boden. Man nannte sie die Ausharrenden. Die Ausharrenden waren diejenigen, die gegen vier Uhr die Schlange verlassen, weil sie keine Hoffnung haben, heute noch dranzukommen oder einen Termin für morgen zu erhalten. So einen Registrierungstermin nannte man Verschiebungszettel. Er bedeutete kurz gesagt: „Komm morgen wieder und warte noch einmal wie heute.“ In der Zwischenzeit werden die Ausharrenden vor dem Tor zum Gelände eine neue Schlange bilden und von vier Uhr abends bis acht Uhr morgens warten, um als erste hineinzukommen.
Wir gingen zum Ballon, um zu schlafen. Doch sie wiesen uns ab, weil alles belegt war. Also baten wir um zwei neue blaue Plastiksäcke, denn die alten waren zerfleddert. Dann kehrten wir zurück zu den Ausharrenden. Schweigend warteten wir die ganze Nacht, nur wenige sagten etwas. Um acht Uhr öffnete sich das Tor. Wir waren unter den ersten Fünfzig, die auf das Gelände rannten, und waren erstaunt, vor dem Bürokomplex schon circa zwanzig Leute anstehen zu sehen. Ihre Gesichter waren uns unbekannt, denn unter den Ausharrenden waren sie nicht gewesen. Sie waren nachts über die Mauern geklettert, um zwischen den Sträuchern auf dem Gelände auf den Morgen zu warten. An diesem Tag erhielten wir wenigstens einen Verschiebungszettel.
Dann schloss das Sozial seine Pforten. Zum Glück kam jemand auf uns zu und bot uns auf Englisch an, uns in einer Basketballhalle unterzubringen. Ich, mein Bruder und zwanzig weitere Erschöpfte folgten ihm dorthin. Dann legten wir uns auf Trainingsmatten, Decken oder Kissen gab es nicht, und sanken in einen tiefen Schlaf, aus dem ich nie wieder erwachen wollte.
Berlin, 2024
Ich wohne in der Nähe der U-Bahn, zwischen der letzten und vorletzten Station. Für mich ist das schon ein Schritt nach vorn, denn nicht weit von mir verläuft die Ringbahnstrecke, die ununterbrochen Berlins Mitte umkreist und keine Endhaltestelle hat.
Neun Jahre lang arbeite ich nun daran, ein Bewohner dieses ehrenwerten Kreises zu werden. Doch mit der Zeit hab ich die Lust daran verloren, denn zur Lust braucht man Glück und Glück habe ich nicht.
Doch ich muss mir hier selbst widersprechen. Es ist zu einfach, dem Schicksal die Schuld zu geben. Es gab Phasen, wo ich glaubte, ich sei vom Pech verfolgt. In anderen hielt ich mich für einen Glückspilz. Doch mittlerweile ist mir klar geworden, die Bevölkerungsverteilung in dieser Stadt hat nichts mit Pech zu tun.
Pech ist der Wohnungseigentümer, der dir seine Wohnung nicht gibt, weil ihm dein Name nicht passt oder dein Einkommen nicht reicht. Pech ist der Arbeitgeber, der dich anders behandelt, weil du eine bestimmte Religion oder Haarfarbe hast. Pech ist das bürokratische Verwaltungssystem, das für dich höchstpersönlich 20 Seiten erstellt, die du vergeblich ausfüllen wirst, wenn du dich über etwas beschweren oder erkundigen willst. Pech ist die Diskriminierung, die dich vor den Türen des Sozial warten lässt, die dich willentlich von politischen Entscheidungen fernhält, die immer neue Ämter schafft, in denen dein Einbürgerungsantrag verloren geht, ohne dass das größere Konsequenzen hätte.
Zu meinem Pech gehört zum Beispiel auch mein Zimmer, im Grunde eher eine Absteige für Durchreisende. „Hier bleib ich vielleicht ’n Jahr, bis ich was Richtiges finde“ – so würde man bei uns dazu sagen. In Anbetracht seiner Lage und Größe ist die Miete vollkommen unangemessen. Der Vermieter macht mit uns ganz gewiss seinen Reibach. Und wieso nehmen wir das einfach so hin? Ganz einfach, wir haben keine andere Wahl. Ich wohne jetzt hier und weiß ganz genau, hier bleibe ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Ich wohne in Berlin noch an einer weiteren Grenze, gehöre weder hier noch dort dazu. Ich lasse mich nicht allzu sehr auf Beziehungen ein, die hier entstehen mögen. Als wären hier alle Nomaden wie ich. Sie alle scheinen irgendwie nur durchzureisen: zwischen Gesellschaften, Nationen und Ethnien. So suchen alle unter allen ihr eigenes Ich, einen Freund, eine Umarmung, eine Wohnung, wo sie ihre blauen Säcke in den Schrank werfen können. An Heimat und Asyl glauben sie alle nicht mehr. Sie trauen sich nicht, ihre Umzugskartons wegzuwerfen, und noch nicht einmal ihre Koffer richtig auszupacken, solange sie, wie ich, in ihren Köpfen verharren.